An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

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„Cash from Chaos“ oder Geschichten von Viren und Volatilitäten

Aus Dr. Bernd Villhauers Blog „Finanz und Eleganz“ in Agora42

Die Wirtschaftsgeschichte ist auch eine Geschichte der Krankheiten.
Ob Menschen gesund oder malade sind, das wirkt sich erheblich auf ihre Eigenschaften als Wirtschaftsakteure aus. Und manchmal werden Krankheiten ja auch zum Geschäft; neue Medikamente verkaufen sich gut, Desinfektionshersteller wundern sich über Absatzsteigerungen und für Medizintechnikfirmen brechen goldene Zeiten an. Aber Krankheitswellen mit vielen Opfern schwächen andererseits natürlich auch Staaten und Ökonomien – wie wir das gerade in China und Italien, bald auch in Deutschland erleben. Das gilt genauso in „normalen Zeiten“ ohne aufsehenerregende Krankheitswellen, die die Metropolen erreichen. Schätzungen der Weltbank beziffern den jährlichen wirtschaftlichen Schaden von Epidemien auf ungefähr 500 Milliarden Dollar. Dass sich Seuchen und Epidemien in der Wirtschaftsaktivität und deren Wiederspiegelung im Börsengeschehen abbilden, ist kaum mehr als eine banale Einsicht. Und fallende Kurse durch Krankheiten oder Kriege boten für die Kaltblütigen auch immer schon Anlagemöglichkeiten. „Kaufe, wenn das Blut in den Straßen fließt“; so oder ähnlich soll ein Rothschild im 19. Jahrhundert diese Cash-from-Chaos-Situationen beschrieben haben.

Das Blut in den Straßen

Aber wie genau sieht die Beziehung zwischen Krankheit und Kurs aus? Und was ist mit den prognostischen Potenzialen des Finanzmarkts? Kann uns die Börse nicht nur etwas über die ungesunde Gegenwart, sondern vielleicht auch über die Zukunft sagen? Was von den Krankheiten ist jeweils schon eingepreist und wie bewährt sich die Börse als Prognoseinstrument?

Damit will ich mich in diesem Blog einmal beschäftigen und dabei muss natürlich gelegentlich das Corona-Virus (COVID-19 bzw. SARS-CoV-2) eine Rolle spielen. Ich schreibe dies zu einem Zeitpunkt (16.03.20), zu dem noch keine Aussagen über den weiteren Verlauf zu treffen sind, das mentale Unwohlsein – bei über 3.000 Infizierten in Deutschland – aber spürbar zunimmt. Wir werden sehen…

Vor dem Blick nach vorne muss der Blick zurück kommen. Wie sah es denn in der Vergangenheit aus mit der Beziehung zwischen Seuchen und Aktienmärkten?

Dazu fasse ich einmal die wichtigsten Krankheitswellen der Vergangenheit zusammen. Es geht nicht um ein Top Ten der Menschheitsgeißeln, sondern darum, die Krankheitswellen aufzulisten, die Einfluss auf die Finanzgeschichte hatten. Sehen wir uns daher einmal die Entwicklung ab dem 16. Jahrhundert an, nachdem es schon fest installierte Börsen und einen intensiven internationalen Austausch gab. Die große Pest des Mittelalters, der „Schwarze Tod“ von ca. 1347 bis 1351, bleibt dementsprechend unberücksichtigt (obwohl es auch bei dieser Krankheit noch Ausbrüche in der Neuzeit gab, z.B. 1712 in Hamburg).

Feinde der Menschheit

Unser erster wichtiger Kandidat für die Auswirkungen von Massenerkrankungen sind aber die Pocken, eine unerfreulich zähe und verbreitete Krankheit, die über Jahrhunderte Opfer forderte. Seit der Antike bekannt und gefürchtet, kam sie immer wieder zum Ausbruch, über die ganze Zeit der Finanzgeschichte hinweg. Im 16. und 17. Jahrhundert starb ungefähr ein Drittel der europäischen Bevölkerung am Virus der Gattung Orthopox. Friedrich der Große hatte sie, Wolfgang Amadeus Mozart, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller ebenfalls, die englische Königin Maria II. starb an ihnen. Da die Pocken über einen so langen Zeitraum immer wieder einmal ausbrachen, bilden sie eine Art dissonanter Begleitmusik für die Markt- und Finanzaktivitäten. Sie machten Geschichte, z.B. durch die massenhafte Erkrankung der indigenen Völker im neuentdeckten Amerika. Die Pocken waren das ungute Gastgeschenk, das aus Europa mitgebracht wurde und nach einigen Schätzungen fielen ihnen zwischen 50 und 60% der einheimischen Bevölkerung zum Opfer.

Wir können an den Pocken schon ein Muster festmachen. Sie haben weniger Auswirkung auf Einzelgeschäfte und zeitlich begrenzte Börsenerfolge, sondern durch ihre lange Präsenz bestimmen sie den Rahmen der Gesamtaktivitäten, sind aber weniger verantwortlich für singuläre Kursbewegungen, außer vielleicht einmal bei der Entstehung von Firmen, die mit den Arzneimitteln handeln. Krankheit, die lange genug anhält, wird zur Normalität.

Wie funktioniert überhaupt die „Einpreisung“ von Krankheiten? Wir müssen scheinbar trennen zwischen der Augenblickswirkung, die einen Wirtschaftszweig für einige Wochen oder Monate lahmlegt bzw. das eine oder andere Geschäftsmodell beeinflusst – und dem langen Verlauf, bei dem die Börse über den Tag hinaus blickt und die Seuche schließlich – so zynisch sich das anhören mag – Teil der Geschäftsbedingungen wird.

Am Fleckfieber lässt sich ein weiteres Merkmal festmachen: wichtig ist immer auch, welcher Teil der Bevölkerung betroffen ist. Das Fleckfieber, eine Infektion, die vor allem durch Läuse übertragen wird, vernichtete einen großen Teil der aus Russland zurückkehrenden „Grande Armée von Napoleon Bonaparte 1813. Börsenauswirkungen: gering. Entscheidend für die Handelsaussichten war der militärische Sieg bzw. die Niederlage. Was mit den Soldaten danach passierte, wirkte sich kaum auf die Finanzgeschäfte aus.

Überhaupt lohnt es sich, darüber nachzudenken, was alles nicht berücksichtigt wird: sterben ganz Regionen in entlegenen Landstrichen Afrikas, dann zuckt kein Börsenbarometer. Hat aber ein wichtiger CEO Schnupfen, dann husten die Analysten… Also: es werden nur bestimmte Krankheiten in bestimmten Regionen eingepreist – wenn sie unmittelbar wirtschaftliche Relevanz haben.

Das zeigte sich zum Beispiel bei der Cholera 1892 in Hamburg. Hier war eine Großstadt betroffen, die als Handels- und Kommunikationszentrum große Bedeutung hatte. Die Expansion der Stadt war über die Jahre aber nicht von einer Modernisierung der Infrastruktur begleitet gewesen. Die hygienischen Verhältnisse können als katastrophal beschrieben werden, besonders im sogenannten „Gängeviertel“ in der Innenstadt und Krankheiten konnten sich so schnell verbreiten. Auch die Wasserqualität war ein großes Problem, da vor allem unfiltriertes Wasser aus der Elbe als Trinkwasser verwendet wurde. Einige Jahre zuvor hatte es eine Diskussion um die Errichtung einer modernen Filtrieranlage gegeben (wie sie in der preußischen Umgebung von Hamburg längst existierte). Der Senat hatte sich seinerzeit aber lieber ein repräsentatives neues Rathaus spendiert.

Als das Unheil seinen Lauf nahm, bei dem fast 10.000 Menschen starben, wurde von auswärtigen Experten wie Robert Koch schnell eine umfassende Modernisierung der Infrastruktur mit einschneidenden sozialen und hygienischen Maßnahmen gefordert – welche dann in den darauf folgenden Jahren auch endlich umgesetzt wurden. Und das befeuerte über Jahre die Kurse der entsprechenden Firmen, die das Material für ein cholerafreies Hamburg lieferten. Ein entscheidender Druck ging dabei von den großen Reedereien aus, da Schiffe aus Hamburg nach Ausbruch der Cholera nirgends auf der Welt mehr gerne gesehen waren. Das Geschäftsmodell der Kaufleute, der Hamburger „Pfeffersäcke“, hing also davon ab, dass schnell wieder saubere Verhältnisse herrschten. Und sobald das absehbar war, konnte erneut Kapital für Handelsunternehmen eingesammelt werden.

Als letzten großen Fall will ich hier noch die Spanische Grippe beleuchten. Spanisch war sie eigentlich gar nicht, sondern kam aus Nordamerika. Ihren Ursprung hatte sie aller Wahrscheinlichkeit nach im Mittleren Westen der USA. Am Standort Camp Funston in Kansas, wo Soldaten für ihren Einsatz in den europäischen Schützengräben ausgebildet werden, meldet sich morgens am 4. März 1918 ein Armeekoch namens Albert Gitchell krank. Die Symptome: Starke Kopf- und Gliederschmerzen, Fieber und Halsweh. Bis zum Mittag tauchen schon 100 weitere Personen mit den gleichen Anzeichen auf, nach drei Wochen sind es über 1000, 38 Rekruten sterben. Es geht dann schnell weiter und nachhaltig schief: zum Kriegseinsatz werden die amerikanischen Soldaten im März und April nach Frankreich verschifft. So kommt die Influenza an die Westfront, wo sich die Armeen der Entente und der Mittelmächte metertief eingegraben haben. Bald sind Freund und Feind im Kranksein vereint. Die Deutschen nennen es «Blitzkatarrh», die Briten «flandrisches Fieber», die amerikanischen GIs «knock-me-down fever». Die grassierende Grippe füllt die Lazarette, ganze Einheiten sind tagelang kampfunfähig, die Offensiven stocken.

Die Pressezensur in den kriegführenden Staaten sorgt jedoch dafür, dass keine beunruhigenden Nachrichten an die Öffentlichkeit dringen können – ein wesentlicher Faktor für die Verbreitung der Krankheit. Wer hier an die chinesische Informationspolitik der Gegenwart denkt, der liegt vermutlich ganz richtig.

Ihren jetzt noch bekannten Namen erhält die Spanische Grippe als dann auch noch der spanische König erkrankt. Aber nicht nur er. In den Folgemonaten sterben zwischen 20 und 50 Millionen Menschen an der hochansteckenden Influenza, manche Historiker schätzen die Opferzahl insgesamt sogar auf bis zu 100 Millionen. Eine halbe Milliarde Menschen, also ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung, soll sich angesteckt haben!

Als der grippale Spuk im Sommer bereits vorbei zu sein scheint, passiert etwas, was bis heute rätselhaft ist: Der Erreger kehrt in mörderisch-mutierter Form zurück, und zwar nicht erst im folgenden Winter, sondern sofort. Schon Ende August wütet die Influenza wieder beidseits des Atlantiks – in Boston an der amerikanischen Ostküste, im westafrikanischen Freetown und im französischen Brest. Das große Sterben beginnt. Nach den gleichen Anfangssymptomen wie im Frühjahr nimmt die Krankheit dieses Mal viel häufiger einen dramatischen Verlauf. Auf den Wangen von Infizierten bilden sich mahagonifarbene Flecken, dann breitet sich die Röte über das ganze Gesicht aus. Die Patienten spucken Blut, ihre Körper verfärben sich violett und dunkelblau, „bis man Farbige kaum mehr von Weißen unterscheiden konnte“, wie ein amerikanischer Militärarzt schreibt. Die Behörden haben nun, bei der zweiten Influenzawelle, den Ernst der Lage erkannt. Es werden Alarmsysteme für Grippefälle eingeführt, über Häfen und Bahnhöfen Quarantänen verhängt, Isolierstationen in Spitälern eingerichtet. Der Gebrauch von Gesichtsmasken und Desinfektionsmitteln wird empfohlen oder gar gesetzlich vorgeschrieben, um die Übertragungsraten einzudämmen.

Hat nun die Spanische Grippe nennenswerte Spuren in der Finanzwelt der Zeit hinterlassen? Das ist nicht leicht zu sagen, da in Kriegszeiten die Börsenbewegungen ohnehin einer speziellen Dynamik folgen. Mit dem Ersten Weltkrieg endet eine Zeit intensiver Globalisierungstendenzen – und die Seuche besiegelt die Trennung zwischen den Staaten. Die Krankheiten können also Tendenzen verstärken, die ohnehin schon da waren. Und sie zeigen die Sollbruchstellen im sozialen wie wirtschaftlichen Gefüge auf.

So war es auch bei SARS, der Vorläufer-Epidemie von Corona, die sich in einer kritischen Lage sehr negativ auf den Konsum auswirkte. Nur das schnelle Abklingen verhinderte eine nachhaltige Störung in den Finanzströmen.

Aber genau das wird beim Corona-Virus nun erwartet. Ein kurzer Schock würde abgefangen, eine lange Krankheit bringt womöglich die Rezession, die alle schon lange erwarten und für die es gute Gründe gibt. Wird die Weltgemeinschaft eine gemeinsame finanzielle Strategie dafür haben? Oder endet die aktuelle Welle der Globalisierung nun endgültig, nachdem ihr gewisse merkwürdig frisierte Herrschaften schon harte Schläge versetzt haben?

Der Kosmopolitismus am Ende – schon wieder?
Die Finanzwelt aus dem Seuchenschutzanzug betrachtet

Wie können auf der finanziellen Ebene die Schockwellen abgemildert werden? Dazu wurde 2015 die Pandemic Emergency Financing Facility (PEF) geschaffen. Das ist eine Art Notfallfonds, der sich durch die Ausgabe von Anleihen finanziert. Durch die Weltbank wurden für diese Anleihen verhältnismäßig hohe Zinsen (6,5-11,1 %) festgelegt, was ihn für viel institutionelle Anleger attraktiv machte.

Der PEF verfügt über ein Volumen von rund 615 Millionen US-Dollar, um betroffenen Ländern sofort helfen zu können. Aufgabe des Fonds ist es nach Auskunft der Bundesregierung, „die kritische Finanzierungslücke zwischen dem Beginn einer Gesundheitskrise und dem erfolgreichen Einwerben von Mitteln“ bei Geber-Konferenzen zu überbrücken, ein „innovatives Finanzierungsmodell unter Einbeziehung der Privatwirtschaft“.

Originellerweise ist es leicht, in den Fonds einzuzahlen und die Rendite einzustreichen, aber ziemlich schwer, als betroffenes Land etwas aus ihm herauszuholen. Die bürokratischen Hürden sind hoch und der PEF kommt auch nur dann zur Auszahlung, wenn es vor Ort mindestens 250 Tote gegeben hat, und wenn mindestens zwei weitere angrenzende Länder davon betroffen sind, in denen es in einem vorgegebenen Zeitraum zu mindestens zwanzig Todesopfern gekommen sein muss. Kann denn nicht schneller und womöglich präventiv reagiert werden?

Quick money for a slower world

Das Finanzsystem prozessiert Informationen sehr schnell – und mit Vorsicht lässt sich sogar von „Lernprozessen“ sprechen. Das kann einher gehen mit Nervositätsausbrüchen: so machte der Volatilitätsindex VDax in den vergangenen Tagen wegen der Corona-Gefahr den größten Sprung seiner bisherigen Geschichte, beruhigte sich aber heute (am 16.03.20) wieder etwas. Und bei langandauernden „Ausnahmezuständen“ wird die Ausnahme zur Regel. Die Finanzmärkte akzeptieren dementsprechend den Status Quo „Krankheit“ ohne Zeitverzögerung (so wie sie auch hervorragend mit begrenzten Kriegen arbeiten können). Und sie antizipieren Erholungsprozesse. In manchen Fällen helfen sie sogar dabei, Geld in die richtige Richtung zu lenken wie bei der Infrastrukturentwicklung in Hamburg oder beim Entwickeln neuer Impfstoffe. Auch die erste Firma mit einem Corona-Gegenmittel wird vermutlich gute Geschäfte machen. Deswegen behaupten ja auch einige Firmen, an einem solchen Mittel zu arbeiten, die bisher nicht mit besonderer Kompetenz in den entsprechenden Forschungsfeldern aufgefallen sind. Diese Signale sind wichtig für den Markt – allerdings nur da, wo auch reale Profite zu erwarten sind. Das Sterben ist dabei kein Thema, wohl aber die Kosten des Überlebens. Sollen wir also hoffen, dass die Ausrottung des Corona-Virus zu einem wirklich guten Geschäft wird? Die Aussichten dafür sind nicht schlecht, da die hochentwickelten Ökonomien und die Panikquiekser der Metropolenbewohner mit ausreichend Kaufkraft unterlegt sind. Anders als bei dem Tod in Entwicklungsländern gibt es ein starkes ökonomisches Interesse an einer Lösung.

Ohne den Menschen, so die irgendwie auch tröstliche Botschaft, kommt das Finanzsystem nicht aus. Die biologischen Grundlagen der finanziellen Leistungsfähigkeit dürfen nicht unterschätzt werden und ihre Bedrohung durch Krankheiten ist dabei ein wichtiger Faktor. Aber dieser wirkt sich in sehr spezifischer Weise aus – die Börsenkurse bilden eben nicht die Wirklichkeit ab, sondern ein Bild von der Zukunft, das für einige Menschen und Branchen von einigen Menschen und Branchen gezeichnet wird. Gesundheit und Wohlergehen der breiten Masse sind da eben nur einige von vielen Faktoren.

Über den Autor:

Bernd Villhauer

Bernd Villhauer

Bernd Villhauer ist seit Januar 2015 Geschäftsführer des Weltethos-Instituts. Geboren 1966, studierte er nach einer Ausbildung zum Industriekaufmann Philosophie, Altertumswissenschaft und Kunstgeschichte an den Universitäten Freiburg i. Brsg., Jena und Hull (UK). Nach seiner Promotion zu einem ku ...