Ein Beitrag von Dr. Friedrich Glauner, Philosoph und Dozent am Weltethos-Institut
Als Einzelne wie auch als Gruppen leben wir aus Bindungen, die uns auch deshalb tragen, weil sie uns dabei helfen, dass wir uns in der Welt verorten können. In dieser Weltverortung sind wir mit Haut und Haaren »soziale Tiere«, sprich Wesen, die aufgrund ihrer bio-psycho-sozialen Konditionierungen nur im Gruppenverbund als Individuum überleben können. Psycho-kognitiv gesprochen heißt dies, wir ziehen unsere Identität und Lebenskraft aus den Zugehörigkeiten, mit denen wir uns in der Welt verorten können. Deshalb ist mit Kwame Anthony Appiah gesprochen unsere Identität ein soziales Konstrukt und nicht eine Essenz, mit der wir uns von den anderen unterscheiden.[i]
Die in unseren Identitäten zum Ausdruck gebrachte sozial getragene Vorstellung unseres persönlichen Ichs, wie es uns in unserem Selbstbewusstsein im phänomenologisch wahrgenommenen Selbsterleben entgegentritt, entspringt dabei zwei Quellen: Erstens, der Gruppe, also dem »Wir«, aus dem heraus ich lebe und von dem ich mich angenommen und aufgehoben fühle; zweitens, der Abgrenzungsleistung, mit der das »Wir« – also die Gruppe – festlegt, was nicht der eigenen Gruppe zugehörig ist. Das aber heißt, dass wir uns mit Paul Ricœur gesprochen nur im abgrenzenden Austausch mit den anderen als ein Selbst erfahren, das mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen ausgestattet ist.[ii]
Wo es uns gelingt, in diesem Austausch das Fremde zu achten, erweitern wir unseren Handlungsspielraum. Wir tragen dann mit dazu bei, dass das Konfliktpotential, das in allem identitären Denken immer schon angelegt ist, in ein Ressourcenpotential umgewandelt wird. In dieser Umwandlung wird das Fremde nicht mehr erlebt als eine Gefahr für das Eigene, sondern als etwas, das möglicherweise das Eigene bereichern kann.
Damit das Fremde zu einer Bereicherung für das Eigene werden kann benötigt es zweierlei: Erstens, und mit Emmanuel Levinas gesprochen den Willen, im Gegenüber das »Antlitz« erkennen zu wollen, das uns im Anderen entgegen tritt[iii]; sowie zweitens und mit Donna Hicks gesprochen den Wunsch, die Bedürfnisse und Lebensformen verstehen zu wollen, die der Andere hat und die wir auch dort zu respektieren haben, wo sie unserem persönlichen Geschmack, d.h. unseren eigenen Bedürfnissen und Lebensformen möglicherweise komplett entgegenstehen.[iv]
Dieses Verständnis für die Bedürfnisse und Lebensformen der Anderen erlangen wir dort, wo wir uns im Umgang miteinander darauf einigen, dass wir uns fremd bleiben können und fremd bleiben dürfen. Denn erst das Belassen der Fremdheit öffnet uns den Erfahrungsraum, in dem das Andere in seinem Eigenen als eine Bereicherung für das Eigene wahrgenommen werden kann, nämlich als Bereicherung unserer Freiheit, im bewussten Umgang mit dem Fremden entscheiden zu können, warum wir dies Andere für uns gutheißen oder ablehnen und damit auch, warum wir das Eigene beibehalten oder möglicherweise erweitern oder verändern wollen.
Dieser Zuwachs in unseren Einsichts-, Handlungs- und Entscheidungsspielräumen gelingt jedoch nur dort, wo der Umgang mit dem Fremden an den von Hans Küng definierten Werten des Weltethos ausgerichtet wird.[v] Für den Umgang mit dem Anderen heißt dies, wo er für uns fruchtbar werden soll, bedarf es auch im Umgang mit dem Eigenen einer Haltung, die wir am Beispiel der Religionen so auf den Punkt bringen können:
Erstens: Hineinerzogen und mithin nach unserer Geburt auf, so Ludwig Wittgenstein, unsere Lebens- und Glaubensformen hin »abgerichtet«[vi], muss es Jeder und Jedem in diesem Glaubenssystem offenstehen, sich zu den Werten der Gemeinschaft bekennen oder sie ablehnen zu können.
Zweitens: Wo ein Mitglied der Gemeinschaft die von der Gemeinschaft getragenen Werte kritisiert oder ablehnt, muss dieser Person auch die Möglichkeit eingeräumt werden, innerhalb der eigenen Gruppe darauf hinzuwirken, dass die Werte und Lebenspraktiken der Gemeinschaft verändert werden.
Drittens: Wo die Gemeinschaft entscheidet, dass sie diese Änderungen nicht wünscht, muss sie den um Veränderung bemühten Personen die Freiheit belassen, sich aus der Gemeinschaft verabschieden zu dürfen, um mit anderen in einer anderen Gemeinschaft andere Lebensformen entwickeln zu können.
Zusammengenommen und am Beispiel der Religionen durchdekliniert heißt dies: nur dort, wo wir im Umgang mit unseren eigenen Werten sowie auch im Umgang mit den Werten der Anderen die Freiheit für die Religion (es ist die Freiheit der Gläubigen, die eigene Religion praktizieren zu dürfen) mit der Freiheit von und vor der Religion verbinden (es ist die Freiheit der Agnostik, sich keiner Religion unterwerfen zu müssen), erlangen wir den Freiraum, in dem wir sowohl das Eigene als auch das Fremde als eine Bereicherung in unseren Wahlmöglichkeiten erfahren können.
Literaturhinweise und Lesetipps:
[i] Kwame Anthony Appiah: Identitäten. Die Fiktion der Zugehörigkeit. Berlin: Hanser Berlin, 3. Aufl., 2021
[ii] Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer. München: Fink, 2. Aufl. 2005
[iii] Emmanuel Levinas: Humanismus des anderen Menschen. Hamburg: Meiner, 1989
[iv] Donna Hicks: Dignity. Its Essential Role in Resolving Conflict. Foreword by Archbishop Emeritus Desmond Tutu. New Haven, CT: Yale University Press, 2011
[v] Hans Küng: Projekt Weltethos. München/Zürich: Piper ,1990, 15. Aufl. 2018
[vi] Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. (Werkausgabe Bd. 1) Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989