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Deutschlands Ungleichheit

Einkommen in Deutschland so ungleich verteilt wie nie zuvor
Die Verteilung der deutschen Einkommen ist nicht so gleichmäßig wie zunächst angenommen schreibt in der WELT. Im Gegenteil: Die Einkommen der Deutschen sind laut dem Verteilungsbericht  des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftungso ungleich verteilt wie nie zuvor. Einen Grund dafür sehen Ökonomen auch in dem Flüchtlings-Zuzug der vergangenen Jahre, der die Statistik verzerrt.
In der Debatte um die soziale Ungleichheit in Deutschland gibt es eine neue Warnmeldung. Die verfügbaren Einkommen sind so ungleich verteilt wie noch nie, das ist das Ergebnis des . Auf Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), der größten repräsentativen Panel-Befragung in Deutschland, haben die Forscher verschiedene statistische Werte zur Einkommensverteilung berechnet.
Das gängigste Maß, der Gini-Koeffizient, erreichte im Jahr 2016 demnach einen Höchststand von 0,295. Liegt der Gini-Koeffizient bei 0, bedeutet dies eine vollkommen gleichmäßige Verteilung; ein Wert von 1 wiederum heißt, dass eine einzelne Person das komplette Einkommen erhält.
Getrieben werde die aktuelle Entwicklung von zwei Faktoren, heißt es in dem Bericht. Zum einen hätten Gruppen mit hohen Einkommen „von sprudelnden Kapital- und Unternehmenseinkommen profitiert und dadurch die große Mehrheit der Haushalte in Deutschland beim verfügbaren Einkommen hinter sich gelassen“. Zum anderen seien die 40 Prozent der Haushalte mit den geringsten Einkommen zurückgefallen. Die Armutslücke – definiert als Betrag der fehlt, um die Armutsgrenze von 60 Prozent des mittleren Einkommens zu überschreiten – sei zwischen 2011 und 2016 preisbereinigt um 29 Prozent gewachsen auf 3400 Euro.

Ging die Schere nach 2005 weiter auseinander?

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„In einer Gesellschaft, die zunehmend in Oben und Unten zu zerfallen droht, ist der Zusammenhalt gefährdet“, sagt Studienautorin Dorothee Spannagel. „Die aktuellen Daten zeigen, dass all jene Politiker und Ökonomen falsch liegen, die Entwarnung geben wollten, weil sich der rasante Anstieg der Einkommensspreizung nach 2005 zunächst nicht fortgesetzt hat.“

Quelle: Infografik WELT

Das Jahr 2005 wird in der Debatte häufig genannt, weil weitgehend Konsens darüber besteht, dass die Ungleichheit bis dahin stark angestiegen ist. Über die Zeit danach herrscht allerdings weniger Einigkeit. Viele Forscher sagen – anders als nun WSI-Expertin Spannagel –, dass sich das Niveau seitdem weitgehend stabilisiert hat.
Einer von ihnen ist Andreas Peichl, beim Münchner Ifo-Institut zuständig für Makroökonomik und Befragungen. Er teilt zwar den Befund des gestiegenen Gini-Koeffizienten. Das bedeute aber nicht, dass es eine strukturelle Verschiebung von arm zu reich gegeben habe. Vielmehr spielten Kompositionseffekte eine Rolle. „Der Anstieg der Ungleichheit von 2014 bis 2016 etwa ist ganz eindeutig auf die Flüchtlingswelle zurückzuführen“, sagt er. „Es ist eine ganze Gruppe von Personen mit niedrigem oder keinem Einkommen hinzugekommen. Da ist klar, dass die Ungleichheit ansteigt.“

Ohne Flüchtlinge gäbe es keinen Rekordwert

Judith Niehues, Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten und Methodenentwicklung beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln, findet die Einordnung, dass sich durch den Anstieg der Zuwanderung die Bevölkerungsstruktur verändert hat, ebenfalls wichtig. „Es haben im Durchschnitt nicht die Leute verloren, die in früheren Jahren zu den unteren Gruppen der Einkommensverteilung gehörten“, sagt sie.
Sie hat auf Grundlage der SOEP-Daten berechnet, wie sich die Einkommensungleichheit verändert, wenn die speziellen Stichproben der Geflüchteten der vergangenen Jahre ausgeklammert werden. „Dann liegt der Gini-Koeffizient im Jahr 2016 bei 0,291 und stellt keinen Höchstwert mehr dar“, so ihr Ergebnis.

Quelle: Infografik WELT

Neben dem Blick auf die Aufteilung innerhalb der Einkommensbezieher ist auch der Blick auf die Lohnquote ein relevanter Faktor. Sie gibt den Anteil des Arbeitnehmerentgelts im Verhältnis zum Volkseinkommen an. „Aus Klassenkampf-Perspektive ist die Lohnquote sehr informativ“, sagt Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) Kiel. „Ein Anstieg bedeutet, dass sich die Menschen mit Arbeitseinkommen gegenüber den Kapitalisten verbessert haben.“ Zuletzt hat die Lohnquote sich deutlich erholt und ist auf 70,8 Prozent gestiegen.

Was ist eigentlich Armut?

Doch welchen Indikator man auch betrachtet: Sie alle bleiben abstrakt und sagen wenig darüber aus, wie gut oder schlecht die einzelnen Menschen tatsächlich leben. Ifo-Experte Peichl findet deshalb wichtig, Armut nicht nur relativ – etwa in Bezug zum mittleren Einkommen – zu messen. Denn dieses Vorgehen habe eine Schwäche. Steigen die Einkommen insgesamt, verschiebt sich auch die Armutsschwelle nach oben. „Das ist gerade in der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs ab 2013 zu beobachten“, sagt Peichl. „Von dem hat die Mitte stärker profitiert, weil sie mehr arbeitet und die unteren Einkommensgruppen oft eben nicht.“ Das habe aber nicht dazu geführt, dass die neu unter der Armutsgrenzende liegenden Haushalte tatsächlich einen geringeren Lebensstandard erreichen.

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Das WSI hingegen betont, dass es für die einzelnen Haushalte durchaus relevant ist, ob die über ihnen liegenden weiter zulegen. Armut und Reichtum könnten nicht unabhängig vom Wohlstandsniveau einer Gesellschaft betrachtet werden, heißt es in dem Bericht. „Steigt der Wohlstand, steigt auch der allgemeine Lebensstandard und mit ihm die Höhe des Einkommens, das notwendig ist, um weiterhin an der Gesellschaft teilhaben zu können. Um diese Teilhabedimension zu erfassen, müssen sich das Armuts- und Reichtumskonzept am Medianeinkommen orientieren“, schreiben die Autoren.
„Hinter der ganzen Ungleichheitsdebatte verbergen sich Werturteile darüber, was eine gerechte Gesellschaft sein soll“, sagt IfW-Ökonom Felbermayr. „Es gibt aber kein einheitliches Konzept von Gerechtigkeit. Der Konsens ist, dass das zum Leben absolut Notwendige gegeben sein muss, und genau das definiert und leistet die Bundesrepublik mit Hartz IV.“

„Dem Wohlfahrtstaat kein Versagen vorwerfen“

Tatsächlich unterscheiden sich die sozialpolitschen Ableitungen je nach Berechnung und Gerechtigkeitsurteil stark. IW-Expertin Niehues etwa will mit ihrer Anpassung des Gini-Koeffizienten nicht sagen, dass ein durch Migration bedingter Anstieg der Ungleichheit weniger relevant sei. Sie will demonstrieren, dass überzogene sozialpolitische Kritik nicht angebracht sei. „Bei dem jüngsten Anstieg der Armut sollte man dem Wohlfahrtsstaat kein Versagen vorwerfen“, sagt sie. „Die Entwicklung ist maßgeblich durch die solidarische Aufnahme geflüchteter Menschen bedingt.“ Die Benennung dieser Ursache sei entscheidend, wenn es um die Handlungsableitungen geht.

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Das WSI wiederum, das die Migration nicht thematisiert, impliziert bei seinen Empfehlungen, dass das grundsätzliche Eingreifen durch den Staat nicht ausreicht. „Haushalte am oberen Ende müssten über höhere Steuern einen größeren Beitrag zur staatlichen Umverteilung leisten“, heißt es in der Analyse. „Um zu verhindern, dass Haushalte am unteren Ende den Anschluss an die Gesellschaft verlieren, sind vor allem die Erhöhung des Mindestlohns, eine Stärkung der Tarifbindung sowie arbeitsmarktpolitische Maßnahmen notwendig.“
IW-Forscherin Niehues hingegen betont, dass sich die Lohnungleichheit in den vergangenen Jahren nicht weiter erhöht habe und die unteren Gruppen bei den Stundenlöhnen sogar aufholen konnten. Sie verweist auf eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, derzufolge die Bruttostundenlöhne bei den untersten zehn Prozent zwischen 2013 und 2016 mit rund 13 Prozent deutlich überproportional zugenommen haben.

Rezession würde zu sinkender Ungleichheit führen

Wie sich die Ungleichheit in Zukunft verändert, hängt auch von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Ökonomen rechnen für die Gesamtwirtschaft aktuell nicht mit einer Rezession. Sollte es aber zu einer Krise kommen, hätte das Konsequenzen. „Im Abschwung sinken die Unternehmenseinkommen tendenziell stärker“, sagt Ifo-Experte Peichl. Die Arbeitnehmereinkommen hingegen seien stabiler gegenüber dem Konjunkturzyklus, sodass die Ungleichheit entsprechend schwanke.

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Im Hinblick auf die Mitte stehe Deutschland im internationalen Vergleich gut da. In qualitativen Befragungen zeige sich allerdings, dass die Zukunftsängste trotzdem groß seien. „Vielen Leuten geht es heute zwar gut. Aber sie fragen sich, ob das angesichts der globalen Unsicherheiten von Handelskrieg bis Brexit auch bei ihren Kindern noch so sein wird“, sagt Peichl. „Ein Großteil der aktuellen Verteilungsdiskussion rührt auch daher, dass man in die Zukunft schaut, die sich nun mal nicht vorhersagen lässt.“

Einkommen in Ost und West gleichen sich immer mehr an

 

Nach einer Auswertung des Ifo-Instituts in München ist der Osten gar nicht so abgehängt. Demnach gleichen sich Ost und West immer mehr an, zumindest im Bereich der Einkommen.

Quelle: WELT

 

Über den Autor:

Gerhard Hofmann

Gerhard Hofmann

Dr. Hofmann war bis 2008 TV-Redakteur, u.a. ARD-Korrespondent Südamerika und Chefreporter SWF, Chefkorrespondent n-tv und RTL. Als Chef der Agentur Zukunft, berät im Bereich der erneuerbaren Energien und Nachhaltigen Entwicklung, u.a. die Desertec Initiative Dii, das IASS Potsdam, acatech und die ...