Ein Kommentar von Dr. Julia Schönborn (Standortleitung World Citizen School)
Wie kommunizieren wir verantwortungsvoll, wenn alles mit mehreren Ausrufezeichen gesendet wird? Wie handeln wir für uns und unsere Mitwelt, wenn wir zu wenig Wissen haben? Was sind die Grenzen von Humor? Was tun wir aktuell, um als Gesellschaft miteinander zu bestehen – und was nicht? Hier einige meiner Lernerfahrungen aus den letzten 48 Stunden.
Während ich diese Zeilen schreibe, erwägen die Schulleitungen an den Schulen meiner Kinder vermutlich, ob sie weiter gehen sollen als die bisherigen Empfehlungen des Gesundheitsamts. An beiden Schulen meiner Töchter gibt es jeweils einen bestätigten Coronafall. Und während das Amt noch keinen Anlass sieht, die Schule zu schließen, sind sich die betreffenden Schulleiter ihrer Verantwortung mehr als bewusst. Anders als beim Feueralarm gibt es für diesen Fall kein Training, keinen Notfallplan. „Dynamisches Geschehen“, sagt die öffentliche Hand, was übersetzt so viel heißen soll wie „Wir haben doch auch keine Ahnung, was wir jetzt machen sollen“. Dennoch habe ich in den letzten Tagen aus dieser Richtung viel Gutes gelesen: Transparente, offene, auch persönliche E-Mails von Seiten der Schulleitung, deren Job ich gerade nicht machen möchte. Die Schule nahm sich Zeit – nicht zu viel –, um zunächst mit Gesundheitsamt und Beiräten das weitere Vorgehen abzustimmen. In den erschöpft klingenden Nachrichten dankt das Team für gute Zusammenarbeit, für besonnene Schüler*innen und viel Hilfe. Transparenz, Offenheit, Klarheit, Fakten. Krisenkommunikation at its best.
Paralleluniversen
Auf meinen Straßen bisher keine Panik, selten ein leer gekauftes Supermarktregal, am Bahnhof oder im Zug nur manchmal eine Atemmaske. Wie eine Parallelwelt scheint da das Social Web. Live-Ticker von Zeitungen werden maximal unsachlich kommentiert, Echtzeitkarten verfolgt und geteilt. Allein das Vorhandensein von solchen Karten mit Zählern der Toten macht mich sprachlos. Ethische Kommunikation sieht anders aus – oder etwa doch nicht?
Bildnis der Vorhölle: Eine WhatsApp-Gruppe mit 200 Verschwörungstheoretiker*innen. Oder auch uninformierter Eltern, nachdem die obigen Schulen ihre Corona-Fälle öffentlich gemacht haben. Die Boulevard-Seiten des Internets haben die Zeit ihres Lebens, nur noch übertroffen vom Freudentaumel der Prepper-Bewegung, die in jedes verfügbare Netzwerk ein überdeutliches „Haben wir Euch doch gesagt!“ schreit. Es ist eine anstrengende Kommunikation dort draußen, und doch: Verharmlosung wäre, Kenntnisstand heute, noch wesentlich schlimmer. „Die Gefahr muss – in sachlicher Weise – in die Köpfe“, schreibt Alexander Unzicker für heise. In einem Artikel, der versucht, den schmalen Grat zwischen extremer Besorgnis und nüchtern dargelegten Fakten entlang zu balancieren. Wobei Fakten hier hochgegriffen wäre. Denn, und das ist eine weitere Lernerfahrung der letzten Tage: Wir werden diese Zeit erst im Rückblick verstehen. Wahrscheinlich sogar mit sehr großer zeitlicher Distanz. Unser angeblich so fortgeschrittenes Wissen: Erschreckend begrenzt. „Wir werden erst im Nachhinein erfahren, wieso wir was gemacht haben“, sagt meine Freundin dazu. „Dann wird klar, was sinnvoll war und was vielleicht übertrieben.“ Und hier wird es schwierig, denn Handeln müssen wir nun mal im Jetzt.
Im Jetzt und Hier
Mein geschätzter Kollege sagt eine Präsentation ab, auf die er sich sehr gefreut hat. In seinem geplanten Vortrag geht es um Weltethos für das 21. Jahrhundert. Unter anderem versteht er unter Weltethos: „Globale Probleme in der eigenen Mitwelt, Umwelt und Nachwelt adressieren“. Der beste Weg, dieses Anliegen ernst zu nehmen, sei, die Verantwortung zu übernehmen. Auch für diejenigen, die es nicht können. Das bedeute, sich mit belegbaren Informationen zu versorgen, diese zu vermitteln und gleichzeitig Menschen durch das eigene Handeln zu schützen – selbst wenn wir nicht wissen, ob die momentan vorgeschlagenen Maßnahmen funktionieren werden. Ich stimme ihm uneingeschränkt zu. Und glaube gleichzeitig, dass wir damit vor einer der größten Aufgaben stehen, die uns bisher gestellt wurde. Denn die Gruppe, die findet, ein junges pandemisches Geschehen betreffe sie gar nicht, ist viel größer, als ich geglaubt habe.
Achtsamkeit und ein guter moralischer Kompass
In einem Gespräch erzählt ein Freund von seinem Team. Er leitet die Kommunikation eines sozialen Unternehmens. Als der Virus auch in Deutschland ausbrach, hatte er die Idee, einige der reißerischen Überschriften aus den Medien humorvoll zu kommentieren und damit ironisch aufzugreifen. Sein Team fand die Vorschläge witzig, dennoch kamen alle ohne große Absprache zu dem Schluss, dass sie den Humor der Menschen angesichts der großen Verunsicherung nicht zu sehr strapazieren werden. Eine spannende und interessante Diskussion: Wann ist Humor angebracht? Und wann nicht? Wie weit darf er gehen, wenn wir nicht absehen können, was aus den Schnellschüssen wird? Aus dem locker aus der Hüfte geposteten Tweet, aus dem reißerischen Gag inklusive kalkuliertem Mini-Shitstorm, denn Hauptsache man ist im Gespräch, egal wie?
Die Gruppe hat, ausgestattet mit einem soliden moralischen Kompass, entschieden, umsichtig zu kommunizieren. Achtsamkeit im Umgang miteinander und mit uns: Kein Trend, sondern eine Haltung der Welt gegenüber.
Im Jetzt und Hier II
Noch etwas erinnert in der aktuellen Situation an die Achtsamkeitsbewegung: Die starke Konzentration auf das Jetzt. Wenn Wissenschaftler*innen offen zugeben, dass sie Verläufe falsch eingeschätzt haben, ihre Überlegungen und Empfehlungen im Dialog anpassen und dabei immer nur „auf Sicht fahren“, weil sie die Fehlbarkeit ihrer Prognosen bereits kennen, ist zumindest die Wissenschaft einen deutlichen Schritt weiter. Wenn wir uns darüber hinaus als Gesellschaft in einem engen globalen Miteinander auf bestimmte Regeln verständigen könnten – ohne Debatte, was davon sinnvoll oder totaler Blödsinn ist: Dann gibt es Hoffnung. Dazu gehören vermeintliche Kleinigkeiten wie „Nicht in Krankenhäusern Sterilium klauen“, das Einhalten der Nies-Etikette oder der Kauf von Babymilchpulver ausschließlich in handelsüblichen Mengen. Dazu gehören aber auch die größeren Würfe: Konjunkturpakete, Home-Office-Regelungen, Online-Konferenzen. Und vermutlich ist das erst der Anfang.
Einige großartige Vorschläge für die kommende Zeit gibt es bereits. Dinge, die abseits von Händewaschen und Rücksichtnahme jeder Mensch tun kann. Auf Twitter – schwer zu ertragen in den ersten Tagen einer Krise, danach aber überraschenderweise oft Lichtblick und Ideenplattform – bittet zum Beispiel Moderator Florian Schröder darum, das Zurückgeben von Veranstaltungstickets im Kulturbereich zu überdenken. In einem längeren Thread schlägt er vor, möglichst keine Retouren für gebuchte Veranstaltungen zu fordern. Eine Möglichkeit, einem stark angegriffenen Kulturbereich die nächste Zeit etwas zu erleichtern. Ein Akt des Miteinanders, ein Akt der Solidarität und der Güte.
Die Krise – ungewollter Lernort
Ob ich mir Sorgen mache, fragt mich meine Mutter. Die Antwort ist: Manchmal. Die hypochondrische Linie meines Erbguts hat sich als durchaus dominant erwiesen. Meistens denke ich aber, dass ich die Zeit der Reflexion und der Lernausbeute noch erleben werde. Und ich möchte gerne mein Möglichstes dazu tun. Was bedeutet, dass ich mich und meine Familie gerade auf einen Lock-Down vorbereite. Nicht aus Panik, sondern aus Solidarität.
Die Welt braucht mit Sicherheit keinen Corona-Virus. Aber wir alle brauchen eine Auszeit. Einen beherzt gedrückten Pausenknopf, um uns zu überlegen, wie wir künftig miteinander leben und umgehen wollen. Eine Zeit der Reflexion und der Begrenzung sozialer Kontakte, um uns diese und andere Fragen zu stellen. Und um letztlich nicht nur in der Krise zu lernen, sondern das Gelernte für die nächste Krise nutzbar zu machen.