An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

First slide

Verantwortung im Zeichen des Krieges – Was wir von der Ukraine lernen können

Der Krieg in der Ukraine wirft viele Fragen auf. Wie weit reicht unsere Verantwortung? Was können wir tun, um Menschenrechte und demokratische Werte zu verteidigen? Haben wir gut genug hingesehen und die Entwicklung richtig eingeschätzt? Kritische Denkanstöße hierzu liefert Dr. Friedrich Glauner in diesem Blog-Beitrag. Er widmet sich gängigen Narrativen und zeigt auf, wo wir uns möglicherweise noch weitaus unbequemere Fragen stellen müssen, um unserer globalen Verantwortung gerecht zu werden.

Seit gut drei Wochen führt Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch wir haben uns mit diesem Krieg schon jetzt schuldig gemacht. Niemand aber kann sagen, das sei uns nicht bewusst. Wir wissen es doch, oder nicht? Was aber bedeutet Schuld in diesem Zusammenhang? Es ist eine Schuld, die nicht so sehr in unserem Handeln oder Unterlassen liegt, als vielmehr darin, dass wir uns vor der Verantwortung drücken, die uns mit diesem Krieg auferlegt worden ist. Wollen wir zum Frieden beitragen, müssen wir uns erst einmal uns selbst gegenüber ehrlich machen, was diese Verantwortung von uns fordert. Hierzu dient diese Reflexion. In kurzen Strichen widmet sie sich dem Zusammenhang von Verantwortung und Schuld, unserer Freiheit, wie wir damit umgehen, sowie der Frage, was daraus für den Krieg in der Ukraine folgt.

Interessant an unserem Umgang mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist, wie er in Erzählungen gekleidet wird, mit denen wir uns aus unserer doppelten Verantwortung für eine ehrliche Analyse der Sachverhalte sowie den Forderungen, die daraus für unser Handeln entstehen, wegzustehlen suchen. Zu diesen Erzählungen gehören:

»Geschichte wiederholt sich nicht und Putin ist nicht Hitler«: Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht und selbstverständlich ist Putin nicht Hitler. Aber wie bei allen menschlichen Verhältnissen gilt auch für die geschichtlichen das Phänomen der »Strukturgleichheit«. Hier sieht die Parallelisierung der Sachverhalte wie folgt aus: In der Hoffnung auf einen Frieden, der uns vor den Gefahren des Krieges retten soll, schwenken wir allzu gerne in Formen des »Appeasement« ein. Wir reden uns die Sachlagen schön mit den Worten: wenn A seinen Wunsch X erfüllt bekommt oder B ihr Ziel Y erreicht, werden sie oder er sich zufrieden geben. Das traf nicht auf Hitler zu und wird auch bei Putin nicht funktionieren. Denn »Appeasement« kann niemals die probate Antwort auf Gewalt sein, wo die Aggressoren der Überzeugung sind, dass Gewalt, Intrigen und Ranküne schon immer die geeigneten Mittel waren beim rücksichtslosen und leider oft erfolgreichen Durchsetzen der eigenen Interessen.

»Worte und Ankündigungen sind keine Taten«: Nimmt man aus dem Bereich der Unternehmensentwicklung den Prozess der Strategie- und Geschäftsmodellplanung, zeigt sich, dass die meisten Geschäftspläne nicht so umgesetzt werden wie angekündigt. Faktisch verlassen – offensichtlich planabweichend – rund 80% aller neu gegründeten Unternehmen innerhalb von maximal drei Jahren wieder den Markt. Die Hauptgründe hierfür sind mangelnde Finanzmittel oder weil das ausgelobte Nutzenversprechen nicht die erhofften Abnehmer gefunden hat oder schlicht, weil sich das Gründungsteam im Verlauf des Geschäftsaufbaus untereinander zerstritten hat. Auch »visionäre Staatsplanungen« zeigen oft ähnlich gelagerte Züge des Scheiterns. Allerdings gibt es leuchtende Ausnahmen. Sie werfen ein Schlaglicht darauf, wie und mit welchen Mitteln die Umsetzung einer anvisierten Staatsvision wahrscheinlicher wird. Nehmen wir hierzu als Blaupause das in der Weltgeschichte wohl am meisten gedruckte und am wenigsten gelesene Buch visionärer Staatsplanung: Hitlers 1925 veröffentlichtes Werk »Mein Kampf«. Im Gegensatz zu vielen anderen »Geschäftsplänen« zur Umsetzung einer Staatsidee konnte Hitler seine dort niedergeschriebenen Ziele mit einigen Abweichungen zumindest bis zum Kriegsjahr 1943 erschreckend erfolgreich umsetzen. Ein Baustein für diesen Erfolg war der ebenfalls schon in »Mein Kampf« angedeutete systematische Aufbau eines totalitären Terrorapparates, mit dem sich die Entrechtungsmaschinerie des III. Reiches durch die Ausbeutung ihrer Opfer finanzierte und dabei Zug um Zug alle Elemente der Gesellschaft auf eine Weise gleichschaltete, in der fast jeder gegen jeden ausgespielt und zur bereitwilligen Schwungmasse der Bewegung umfunktioniert werden konnte. Kommt es beim Aufbau solcher Terror- und Gewaltsysteme innerhalb einer davon heimgesuchten Gesellschaft zu entscheidenden Kipppunkten, können sich diese nur noch schwer mit eigener Hilfe aus ihrer Unterdrückung befreien. Wer aber über solche mit den Mitteln des Terrors zu realisierende Großvisionen redet und sich mit seinem Tun auch im konkreten Handeln auf den Weg zu ihrer Umsetzung macht, hat begriffen, dass schon Worte Taten sein können. Man sollte also die Äußerungen – in diesem Falle jene des neuen Zaren aus Russland, der angekündigt hat, dass er angetreten sei, um die Welt der westlichen Werte zu bekriegen und zu zerstören – beim Wort nehmen. Es sind Ankündigungen, die im vorliegenden Fall des nach innen und außen gerichteten Staatsterrors von Russland nun auch im Tun konkrete Gestalt annehmen.

»Wir müssen auf Dialog und Vermittlung setzen«: Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment. Wir stehen am Bahnsteig und sehen, wie neben uns eine Person zu Boden geschlagen wird und der Peiniger sich anschickt, sie über die Bahnsteigkante zu stoßen. Wo wir wegschauen, machen wir uns der unterlassenen Hilfeleistung und möglicherweise der Beihilfe zu Todschlag oder gar Mord schuldig. Was also bleibt? Beherztes Eingreifen und ja, auch der Versuch, den Schläger mit sachlichen Worten zur Räson zu bringen. Was aber gelten Worte, wenn wir von einem Aggressor aufgrund vielfach belegter Sachverhalte wissen, dass er ein Soziopath und notorischer Lügner ist, der alles, bis hin zu Worten und Verträgen, nur aus der Warte heraus betrachtet, wie sie so nutzbar sind, dass ihr Einsatz zum eigenen Vorteil gereicht und dem Gegenüber den größtmöglichen Schaden zufügt. Wo wir wissen, dass das Gegenüber ein notorischer Betrüger ist, können Dialoge nur so geführt werden, dass der Betrug offen benannt und unmissverständlich geahndet wird. Alle weiteren Gespräche sind mit Maßnahmen zu flankieren, die für das Gegenüber gerade dann schmerzlich greifen, wo es gewalttätig wird oder absehbar, dass es weiterhin mit Gewalt, Lug und Betrug voranzuschreiten trachtet.

»Wir befinden uns (noch) nicht im Krieg«: Seit langem hat Putins Russland dem Westen den Krieg erklärt und führt ihn seitdem auch schon aktiv mit scharfem Schwert. Dabei ist die bisherige Wahl der Waffen weniger entscheidend, als die Schwere seiner mit den Mitteln der asymmetrischen Informationskriegsführung geführten Schläge. Aus militärstrategischer Sicht war in diesem Krieg Putins wohl bisher größter Erfolg, dass er auch durch sein medientechnisches Zutun Donald Trump zur Präsidentschaft bei seinem Erzfeind USA verhalf. Denn Trump konnte so bis zum Überfall Putins auf die Ukraine der US-amerikanischen Demokratie sowie der westlichen Werte- und Verteidigungsgemeinschaft einen weitaus größeren Schaden zufügen, als es Putin und Russland mit eigenen Mitteln je möglich gewesen wäre. Erst wo in einem kriegerischen Konflikt die in der Eigenwahrnehmung nicht kriegführende Partei anerkennt, dass sie entgegen dem eigenen Willen von einem Aggressor in den Krieg gezogen wird, kann sie die richtigen Maßnahmen treffen, um auf die Aggression angemessen reagieren zu können. Dazu muss sie aber anerkennen, dass Kriege auch dort stattfinden, wo sie lediglich einseitig geführt werden. Wo eine in solche Kriege verwickelte Partei das nicht anerkennt und die Einsicht verdrängt, dass gegen sie Krieg geführt wird, hat sie schon vor ihrem Eintritt in den Krieg kapituliert und verloren. Und das mit allen Folgen, die der Sieger dann über die Verlierer bringen wird.

»Ein atomarer Weltkrieg muss um jeden Preis verhindert werden«: Ja, das sollte er. Aber verhindert wird er nicht dadurch, dass eine Seite einseitig die Bedrohung zurücknimmt, indem sie sich vom Gebot der uneingeschränkten Vergeltung verabschiedet, um so der Gewalt zu entgehen. Um hier genau zu sein: Gewaltanwendung ist kein Mittel, mit dem Konflikte gelöst oder gar befriedet werden könnten. Die reale und unmissverständliche Gewaltandrohung ist jedoch sehr wohl ein vielfach erprobtes Mittel zur Gewaltverhinderung. Deutlich wird dies, wenn man die individualpsychologische Psychologie der Konflikte von einer systemischen Warte aus betrachtet und in dieser Betrachtung das Spielfeld der Kontrahenten verlässt, um andere Akteure ins Kalkül der Bedrohungsmechanismen einzubeziehen. In der Psychologie der Konflikte gibt es neun, von Friedrich Glasl analysierte Konfliktstufen. Sie werden durchschritten, wenn die streitenden Parteien nicht in der Lage sind, in einen konfliktlösenden Dialog einzutreten, der von den Idealen der Gewaltfreiheit, des Respekts und der wechselweisen Würde getragen ist. Wo das der Fall ist, kann der Streit der Kontrahenten bis dahin eskalieren, wo auf der letzten, von Glasl »Gemeinsam in den Untergang« genannten Stufe, die Konfliktparteien auch um den Preis des eigenen Untergangs den Streit für sich entscheiden wollen. Befinden sich Kontrahenten in dieser psychologischen Falle, kann sie die Androhung von Gewalt nicht mehr abschrecken. Eine Lösung muss dann von außen kommen. Und auch hier zeigt die Geschichte Beispiele auf. Fest in der Hand von Hitler, Goebbels, Göring und Konsorten wagte bis fast zum Ende des Krieges keiner der an Hitler herankommenden Personen, sich offen gegen ihn und sein Gewaltregime zur Wehr zu setzen. Erst mit der Einsicht, dass der Krieg offensichtlich nicht mehr zu gewinnen war, änderte sich das. Angesichts der drohenden Niederlage reagierten Offiziere und Generäle auf Hitlers Gewaltphantasie, dass im Fall einer kriegerischen Niederlage auch das deutsche Volk unterzugehen hat, weil es sich ihm, dem Führer, dann als unwürdig erwiesen habe, mit offenem Widerstand. Leider vergeblich versuchten sie Hitler am 20. Juli 1944 zu töten. Übertragen auf die atomare Abschreckungslogik bedeutet dies, dass sie dann funktioniert, wenn noch vor der letzten Konfliktstufe dem Gegenüber unmissverständlich glaubhaft gemacht wird, dass man gewillt und bereit ist, mit ihm in den Untergang zu gehen. Wenn dieser Wille glaubhaft vermittelt und auch in den Köpfen eines breiteren Kreises, als dem des allerengsten Terrorzirkels verankert wird, wird er die inneren Kräfte jener aktivieren, die aus eigenem Überlebensinteresse oder, wie die Passagiere des Flugs UA 93 beim Terroranschlag vom 11. September 2001 aus Verantwortung für ihre Mitmenschen dafür sorgen, dass der Aggressor ausgeschaltet wird bzw. dass die vom Aggressor angedrohten Gewaltszenarien nicht konkrete Gestalt annehmen werden.

»Wir missachten die legitimen Interessen Russlands«: Allenthalben ist zu hören, dass der Westen mit dem »amerikanischen Narrativ« der Verteufelung von Russland als der »Macht des Bösen« Putin und Russland herabgewürdigt sowie mit der NATO-Osterweiterung in die Enge gedrängt habe. Russland sah sich deshalb legitimerweise genötigt, darauf zu reagieren. Was aber sind die legitimen Interessen Russlands und was die der anderen Staaten in Europa und der Welt? Zunächst einmal gilt das Faktum des Völkerrechts und der europäischen Ordnung seit dem Ende des »Kalten Krieges«. Diese Ordnungen haben sich zumindest der Idee nach vom dualistischen Denken in Pakt- oder auch Vasallenstaaten verabschiedet und auch davon, dass die Welt in Hemisphären eingeteilt und dem scheinbar legitimen Zugriff der USA und von Russland zugeschlagen sei. Ein Teil der vertraglichen Verabschiedungen dieser Einsichten war die Übereinkunft, dass jeder Staat das eigene uneingeschränkte Recht hat, sich aus freien Stücke und nach eigenem Gutdünken in seinem territorial verbrieften Staatsgebiet so entwickeln und mit anderen politischen Entitäten so verbinden zu können, wie es die Bevölkerungsmehrheit in demokratischer Wahl selbstbestimmt für richtig hält. Darüber hinaus wurde zwischen Russland und der Ukraine ein Vertrag abgeschlossen, der gegen den ukrainischen Verzicht auf Atomwaffen von Russland das vertraglich verbriefte Recht auf Eigenständigkeit und territoriale Integrität zugesprochen bekommen hat. Gegen all diese Verträge hat Russland offensichtlich einseitig aktiv und völkerrechtswidrig verstoßen. Schon mit der Annexion der Krim und nun mit dem Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine. Dabei wird von Seiten Putins und Russland mit Lügen gearbeitet, die den mit Lügen inszenierten Propagandafeldzügen von Hitler, Goebbels & Co. das Wasser reichen. Schon deren erste aber enthält einen logischen Fehler, der ein Licht darauf wirft, was Putin wirklich im Schilde führt. Sie besagt, dass es einen Puffer zwischen der NATO und Russland geben solle, damit in Europa der Frieden gewahrt werden kann. Dieser Puffer existiert schon nicht im Baltikum und würde noch weniger gelten, wenn Russland sich die Ukraine einverleiben würde. Denn dann würde das Imperium Russlands ja auch an den Grenzen zu Polen, Rumänien, der Slowakei und Ungarn unmittelbar an die NATO heranrücken. Die Aufhebung einer direkten Grenze zur NATO und ihrer Schutzmacht USA würde also nur dann erfolgreich umgesetzt werden können, wenn es auf europäischem Boden keine NATO-Anrainerstaaten mehr geben würde und einzig der Atlantik als Puffer zwischen den USA und Russland dient. Das aber ist die Vision Russlands, dass es in der neuen, von Russland angestrebten Weltordnung bis auf die einander belauernden bzw. bekriegenden Kontrahenten USA, China und Russland keine sonstigen Staaten mehr geben darf, die ein Recht auf freie Selbstbestimmung haben.

»Es geht um die Freiheit der Ukraine«: Nein! Es geht um weit mehr als nur das. Unser Umgang mit dem Krieg in der Ukraine ist der Lackmustest für das, was aus übergeordneter Warte für die Frage nach der Überlebensfähigkeit der Menschheit insgesamt zur Klärung ansteht. Es ist die praktische Beantwortung der Frage, wie wir als Staatengemeinschaft mit Aggressoren umgehen, die auf eklatante Weise gegen das Friedensgebot verstoßen sowie daraus abgeleitet, wie wir uns als Staatengemeinschaft bei der Lösung der globalen Probleme aufstellen, die unser Überleben bedrohen. Auch diese sind nur dann lösbar, wenn das in ihnen schlummernde Konfliktpotential auf eine für alle gedeihliche Weise behoben werden kann. Das aber sind die eigentlichen Fragen, auf die uns die Ukraine eine uns beschämende Antwort gibt. Denn das ukrainische Volk, das beherzt gegen die ihm angetane Gewalt einschreitet, hält uns den Spiegel vor: Der Krieg in der Ukraine ist die Geschichte unserer Freiheit und unserer Fähigkeit, ob wir in der Lage sind, sie und uns so zu verteidigen, dass wir auch in Zukunft von ihr noch erzählen können. Das aber können wir nur dann, wenn wir die zentralen Konflikte und Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, so lösen, dass einzelne Staaten, Kulturen und Ethnien ihr Recht auf Eigenständigkeit und Unversehrtheit wahren können und bei Konflikten Aggression keine akzeptierte Lösung mehr ist. Was uns die Ukrainer vorleben, ist somit die Standhaftigkeit bei der Übernahme einer Verantwortung, die ein zweifaches Wissen beinhaltet. Erstens die Einsicht, dass eine Selbstaufgabe die in Kauf genommene Aufgabe des eigenen Mensch-seins ist sowie zweitens die weiter reichende Einsicht, dass das Aufgeben eines Landes das Menetekel ist für die willentliche Bereitschaft, auch in den anderen Konflikten, die noch kommen werden, beträchtliche Teile der Menschheit aufgeben zu wollen. Hiergegen schreitet die Ukraine ein und beschämt uns darin, weil wir in der unverantwortlichen Hoffnung zögern, dass die Kosten dieses Krieges an uns vorbeiziehen und wir unser bequemes Leben auch weiter so leben können, wie wir es gewohnt sind. Das aber werden und können wir nicht, da wir damit den Frieden nicht retten werden. Wollen auch wir den Frieden sichern, müssen wir in der vollen Verantwortung für die Schuld, die wir damit auf uns nehmen, den Krieg gegen den Krieg wagen. Treten wir dagegen nicht in diesen Krieg gegen den Krieg ein, werden wir auf eine doppelte Weise schuldig. Wir verraten dann nicht nur die Ukraine, sondern alle, die die Vision eines menschlichen Friedens hochhalten.

»Sich (der Verantwortung) stellen«: »Sich stellen« und »Sich der Verantwortung stellen« sind nicht das gleiche. Ersteres ist eine Erkenntnishaltung, die sich ohne Scheuklappen den Sachlagen zuwendet, um zu begreifen, was ist. Letzteres repräsentiert dagegen den Akt, wie wir auf das Erkannte reagieren. Hier schließt sich der Kreis zu unserer Verantwortung, unserer Wahl in den Sprung in die Schuld sowie dem Zusammenhang beider und was er angesichts des Ukrainekrieges für uns bedeutet: Kein Mensch und kein Staat hat das Recht, im Namen einer Idee seine eigenen Werte und Daseinsformen Dritten aufzuzwingen, weder mit bedrängenden Worten noch in Akten der rohen Gewalt. Das aber heißt konkret, kein Mensch und kein Staat hat das Recht, Gewalt gegenüber Dritten auszuüben. Dort aber, wo es jemand macht, hat der Rest der Gemeinschaft nicht nur das Recht, sondern die uneingeschränkte Pflicht, mit allen Mitteln dagegen einzuschreiten und die Täter bis hin zur vollständigen Ächtung und Isolierung so lange abzusondern, bis wahrnehmbar ersichtlich wird, dass sie nachhaltig von ihrem Verhalten abgerückt sind. Wer aber mehrfach sein Gelübde des Abrückens bricht oder es nur zu lügnerischen Zwecken abgegeben hat, um die eigenen niederträchtigen Pläne noch erfolgreicher durchsetzen zu können, hat allen Vertrauensvorschuss verspielt, dass er sich wirklich läutern würde oder gar könnte. An der eigenen Geschichte verdeutlicht heißt dies, wir wurden von Hitler erlöst, weil andere gegen Deutschland in den Krieg gezogen sind, um uns von uns selbst zu befreien. Soll die Welt befriedet werden, gilt es aus dieser Erfahrung Lehren zu ziehen. Wir haben die Pflicht, die Ukraine in allem und mit allem, das uns möglich ist, so zu unterstützen, dass der gegen die Ukraine geführte Krieg nicht vom Aggressor gewonnen werden kann. Das auch deshalb, weil Putin schon in seinen zuvor geführten Kriegen in Tschetschenien und Syrien durch den Einsatz von Chemiewaffen sowie anderen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehenden Kriegsverbrechen wie etwa dem Terror gegen die Zivilbevölkerung oder der Bombardements von Krankenhäusern, Kirchen und Kinderheimen wiederholt gezeigt hat, dass – wie Kenner Putins wie etwa Mikhail Khodorovsky, Garri Kasparow oder Juri Andruchowytsch schon seit langem warnen – für ihn nur das Gesetz der Gewalt gilt und ihm nichts heilig ist. Wo er deshalb von »Säuberungen« in der Ukraine redet, können wir davon ausgehen, dass es sich um ähnliche Gräuel handeln wird, die schon seine Brüder im Geiste, Adolf Hitler und Josef Stalin, in den von Timothy Snyder so eindrücklich beschriebenen »Bloodlands« begangen haben. Im nationalsozialistischen und stalinistischen Terror ließen sie im Gebiet rund um die Ukraine 14 Millionen Zivilisten und Kriegsgefangene ermorden. Angesichts dieser Aussichten ist unser heuchlerisches »Nie wieder«, mit dem wir uns vor unserer Verantwortung wegducken, nichts anderes als eine schäbige Variante des »Schon wieder«, mit dem wir uns erneut nicht nur an der Ukraine, sondern auch an uns selbst und jenen aufrechten Russen, die sich gegen das »schon wieder« zur Wehr setzen, schuldig machen.

Zugleich bürdet uns diese unbedingte Pflicht zum Einschreiten gegen die Gewalt Putins die weitere Pflicht auf, dass wir als Staatengemeinschaft gemeinsam dafür sorgen müssen, dass Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung gebannt wird. Nur wenn wir es als Staatengemeinschaft und Menschheit schaffen, hegemoniale Bestrebungen gleich welcher Art erfolgreich einzuhegen, werden wir auch die Wege finden, mit denen die globalen Problemlagen der Menschheit lösbar werden. Machen wir uns also ehrlich: Wir stehen im Krieg mit Russland und auch hier gilt das Wort des Kaufmanns, dass die ersten Verluste in der Regel die geringsten sind. Wäre gegen Hitler schon 1939 oder noch früher entschieden vorgegangen worden oder wäre man schon 2014 gegen Putins Annexion der Krim mit tragfähigen Mitteln eingeschritten, das Schlimmere, das jeweils folgte, hätte es so wohl nicht gegeben. Warten wir jedoch ab, bis die Ukraine möglicherweise gefallen ist, wird auch der Preis, der dann für uns entsteht, ins derzeit noch Unvorstellbare steigen. Treten wir also ein in unsere Verantwortung und der Gewalt von Putins Russland mit Herz und Hand entgegen.

Über den Autor:

Dr. Friedrich Glauner

Dr. Friedrich Glauner

Dr. Friedrich Glauner ist Philosoph und Autor. Er studierte Philosophie, Wirtschaftswissenschaften, Religionswissenschaften, Geschichte und Semiotik. Am Weltethos-Institut lehrt er zukunftsfähige Geschäftsmodellentwicklung, werteorientierte Unternehmensführung und Unternehmensethik.