An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

First slide

Wissenschaft als gesellschaftlicher Suchprozess und großes Lernprogramm

Wissenschaft ist gesellschaftlich hoch gefragt und hoch umstritten. Es lohnt sich, ihre Eigengesetzlichkeit zu beachten, die sowohl normative wie empirische Fragestellungen umfasst. Auf diese Weise kann – so argumentiert Ulrich Hemel in diesem Blog-Beitrag – Wissenschaft als großer gesellschaftlicher Suchprozess und im Sinn der Weltethos-Idee als Lernprogramm für die Grundlagen guten Zusammenlebens wirken.

Gerade in der Corona-Pandemie erhielten Stellungnahmen aus der Wissenschaft eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Virologinnen und Epidemiologen wurden zu Protagonisten der Weltdeutung in der Krise. Politikerinnen und Politiker versuchten, eine wissenschaftsbasierte Form der Politik zu etablieren, mit durchaus wechselhaftem Erfolg.

Nach zwei Jahren Pandemie erkennen wir die Gründe für Kritik an politischen Maßnahmen deutlicher als zu Beginn der Krise. Zum einen wird nicht immer angemessen kommuniziert. Zum andern ist der Sprung aus der wissenschaftlichen Sphäre in die Politik größer als er scheint. Schließlich ist die Spezialisierung der Politik die Suche nach allgemeingültigen Regeln. Die Spezialisierung von Wissenschaft bezieht sich jedoch meist auf ein Fachgebiet, und dort auf einen eng und klar abgegrenztes Wissensgebiet. Nur so ist es möglich, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.

Generalisierungen sind im Wissenschaftsbetrieb hingegen eine schwierige Angelegenheit. Eine Virologin weiß womöglich nichts oder wenig von Sozialpsychologie oder von den Mechanismen populistischer Fahnenbildung. Der spezialisierte Blick eignet sich nicht für das Erkennen des großen Ganzen.

Der Lebensbereich Wissenschaft gerät aber auch von anderer Seite unter Druck. Denn wissenschaftliche Ergebnisse eignen sich ja umgekehrt durchaus für eine Form politischer Instrumentalisierung, so dass die Berufung auf bestimmte Studien sehr selektiv, sehr zielgerichtet und letztlich einseitig wirken kann. In der Bevölkerung entsteht dann bisweilen der Eindruck „Anything goes“ oder – mit der Berufung auf Wissenschaft könne man ja alles beweisen…

Da Wissenschaft öffentliche Mittel beansprucht, entsteht darüber hinaus noch eine andere Ebene des Rechtfertigungsdrucks. Wie relevant soll es denn sein, sich mit Rechtstexten des 12. Jahrhunderts oder mit der DNA des Rüsselkäfers auseinanderzusetzen? Sollte Wissenschaft da nicht grundsätzlich eher solche Fragen beackern, die im öffentlichen Interesse liegen?

Die Steuerung von Universitäten und Hochschulen über Repräsentantinnen und Repräsentanten der politischen und wirtschaftlichen Sphäre scheint in diese Richtung zu gehen, beißt sich aber im Einzelfall mit dem klassischen Ideal der Wissenschaftsfreiheit. Noch mehr: Die Forderungen nach „Responsible Science“ führen normative Zielvorstellungen in einem solchen Ausmaß in wissenschaftliches Handeln ein, dass in den Augen von Beteiligten früher gegebene Handlungsspielräume stark eingeschränkt werden. Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte Cancel Culture, die normativ und sanktionsbewehrt fordert, bestimmte historische Inhalte nicht mehr zu tradieren oder – wie andere es sagen – bewusst zu zensieren.

Darüber hinaus gilt es, eine interne Dynamik des Wissenschaftsbetriebs zu beachten. Denn die immer weiter zunehmende gesellschaftliche, aber eben auch wissenschaftliche Arbeitsteiligkeit und Spezialisierung führt  immer deutlicher  zu wissenschaftsinternen, aber auch politischen und gesellschaftlichen Anfragen an scheinbar wenig relevante und folglich auch wenig „drittmittelfähige“  Grundlagen- und an Nischenfächer. Wer heute nicht empirisch arbeitet und auf Englisch publiziert, gehört schon einer Minderheit wissenschaftlich tätiger Personen an. Dabei wird übersehen, dass Wissenschaft ihrerseits normative Voraussetzungen hat, die bis in das Ethos wissenschaftlichen Arbeitens „nach bestem Wissen und Gewissen“ hineinragt. Normative Begründungsverfahren werden dann einseitig beargwöhnt, gelangen aber durch die Hintertür bestimmter Forderungen des Zeitgeistes massiv in die Wissenschaftspraxis hinein. Reflektiert werden sie nicht immer.

Zur Wissenschaft gehört aber auch die Reflexion ihrer eigenen Voraussetzungen. Philosophie und Ethik sind daher gerade in einer so komplexe gewordenen, zunehmend digitalen Welt von eminenter Bedeutung. Sie erschöpfen sich aber nicht in empirischen Untersuchungen, so wichtig diese sind.

Wissenschaft ist verbunden mit Neugier. Sie sucht neue Erkenntnisse und neue Sichtweisen. Sie geht in ihrem Methodenkanon nicht auf, und das gilt sogar dort, wo sehr strenge methodische Voraussetzungen gelten, etwa in den Naturwissenschaften. Denn jede Methode bringt eine Art und Weise der Weltbetrachtung mit sich, steht für eine bestimmte Perspektive, klammert aber andere Perspektiven aus. Jede Wissenschaft ist daher  aufgerufen, ihre eigenen Werte zu reflektieren und sie immer wieder neu zu überprüfen. Aktuell erleben wir dies besonders stark im scheinbar ganz und gar technisch geprägten Feld der Künstlichen Intelligenz. Doch selbst die „Trainingsdaten“ eines KI-Programms spiegeln eine bestimmte Form der Lebenswirklichkeit und können sogar diskriminierend wirken. Die Forderung nach „Ethics by Design“, also der Beachtung ethischer Perspektiven von Anfang an, ist eine naheliegende Folge dieser Entwicklung.

Wissenschaft ist daher grundsätzlich und immer auf Kritik und Gegenkritik angewiesen, auf normative Reflexion ebenso wie auf empirische Überprüfung, auf öffentliche Kommunikation ebenso wie auf das Fachgespräch. Wissenschaft ist kein Ersatz für Politik, aber sie kann eine gute Hilfestellung für Entscheidungen leisten. Wissenschaft ist kein Allheilmittel gegen Aberglauben, Populismus, Fake-News und sonstige Irrungen, aber sie kann helfen, eine Gesellschaft offener, resilienter und letztlich überlebensfähiger zu machen.

Genau dafür braucht es auch die ethische Grundlagenreflexion über Wissenschaftspraxis und gutes Zusammenleben, wie sie als Impuls von der Weltethos-Idee ausgeht. Wissenschaft lässt sich dann verstehen als großer Suchprozess, als gesellschaftliches Lernprogramm und als eine bereichernde, aber letztlich ergebnisoffene Erfahrung mit allen Höhen und Tiefen!


Über den Autor:

Ulrich Hemel

Ulrich Hemel

Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel ist der Direktor des Weltethos-Instituts. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Ethik in Unternehmen, Wirtschaftsanthropologie, Ethik in der digitalen Transformation.