An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

First slide

Der Mensch – (und) die Krise

In diesem Blogbeitrag adressiert Dr. Friedrich Glauner die mentalen und gesellschaftlichen Hürden, die wir zu überwinden haben, wenn wir als Einzelne und als Menschheit sachlich und menschlich angemessen den planetaren Herausforderungen begegnen wollen, die wir selbst in die Welt gebracht haben.

Das Krisenhafte der Menschheit ist der Mensch in der Krise. Wo wir uns als Einzelne oder kollektiv im Modus der Krise befinden, verlieren wir unsere Sicherheit und mit ihr den gewohnten Maßstab im Umgang mit uns und der Welt. Auf das uns Ängstigende reagieren wir dann mit den biologisch konditionierten Formen der Gefahrenabwehr: wir erstarren, fliehen oder greifen an. All diese Verhaltensweisen sind jedoch falsch im Umgang mit komplexen Krisen und Verunsicherungen. Solche lassen sich nur lösen, wenn wir ihre wahren Ursachen erkennen und Wege finden, sie situativ angemessen und sachgerecht so zu bewältigen, dass tragfähige Lösungen entstehen. Was das bedeutet, kann man an den Herausforderungen durchbuchstabieren, vor denen die Menschheit heute steht.

Betrachten wir die globalen Probleme, die die Menschheit bedrohen, stehen wir vor der Herausforderung, wie wir als eine Art, die sich viral vermehrt, auf die planetaren Grenzen und die Tragfähigkeit der Erde zu reagieren haben. Folgen wir den aktuellen Nachhaltigkeitsdiskursen, steht dabei der Klimawandel oben auf der Krisenagenda. Er ist aber nicht das bedeutsamste Problem. Relevanter als der Klimawandel ist das, was bei den Nachhaltigkeitsdiskursen oft aus dem Raster fällt: unser menschlicher Umgang mit den akuten Dringlichkeiten, ihren Korrelationen sowie den dahinterstehenden Treibern und Wechselwirkungen.

Beginnen wir bei den Dringlichkeiten. Anders als beim Klimawandel haben wir schon heute in zwei Segmenten der planetaren Grenzen (Abb. 1) den sicheren Handlungsraum für unser Fortleben verlassen: im Bereich der biochemischen Flüsse, konkret bei der landwirtschaftlichen Phosphor- und Stickstoffnutzung. Diese ist ursächlich dafür, dass das seit dem 19. Jahrhundert exponentiell ansteigende Bevölkerungswachstum von 980 Mio. Menschen im Jahr 1800 auf 1,68 Mrd. in Jahr 1900 auf 6,14 Mrd. Menschen im Jahr 2000 sowie auf gut 7,9 Mrd. zum Stichtag 10. November 2021[1] durch verbesserte Düngeverfahren in der Landwirtschaft aufgefangen werden konnte. Wie Hans Rosling in seinem Buch »Factfulness« feststellt[2], wurde der weltweite Hunger so signifikant reduziert und zugleich der globale Wohlstand auf breiter Ebene deutlich angehoben. Aufgrund der zumindest mittelfristig absehbaren Endlichkeit des Phosphors (Stichwort »peak phosphor«) sowie der Negativeffekte des überhöhten Phosphor- und Stickstoffeintrags in die Ökosysteme stehen wir heute jedoch an einem Punkt, an dem die bisher scheinbar positiven Effekte unserer phosphor- und stickstoffbasierten Agrarwirtschaft geradezu in ihr Gegenteil umschlagen: die agrartechnische Übernutzung der landwirtschaftlichen Flächen führt zu deren Auslaugung und der mit der Überdüngung einhergehende Nährstoffeintrag in die Umwelt zur Zerstörung der natürlichen Ökosystemgleichgewichte.

Abb. 1: Planetare Grenzen [3]

Einen ähnlich katastrophalen Effekt hat die zweite Dringlichkeit im Umgang mit den planetaren Grenzen. Es ist die dramatisch ansteigende Ausdünnung der Biodiversität. Zieht man jüngste Studien zum Artensterben heran, verursachen wir derzeit einen Artenverlust, der in der Magnitude, sprich der Geschwindigkeit und Wirkungskraft dreimal so schnell und heftig ausfällt, wie das letzte große Artensterben, bei dem in der Folge eines Meteoriteneinschlags bei Yucatan, Mexiko vor 66 Millionen Jahren rund 75% aller damals lebenden Arten ausstarben.[4] Nimmt man zu diesem Befund die Erkenntnis hinzu, dass die Menschheit schon heute bezogen auf die Anzahl der Individuen einzelner Arten gut 83% aller wild lebenden Säugetiere und die Hälfte aller wild lebenden Pflanzen unwiederbringlich vernichtet hat[5], führt dieser offensichtlich schon vollzogene Raubbau am Ressourcengrundstock der Biosphäre dazu, dass mit dem Verlust der vielfältigen Biomasse auch die in ihren Wirkweisen und Beiträgen noch nicht vollständig verstandene funktionale Vielfalt der Biosphäre zu kollabieren droht. Sie aber ist die Basis dafür, dass die Natur auf unvorhergesehene Ereignisse wie beispielsweise die menschgemachte Erderwärmung so reagieren kann, dass nicht alles kollabiert.

Aus dem Zusammenhang der akuten  Dringlichkeiten im Umgang mit den planetaren Grenzen ergibt sich das Problem unseres Umgangs mit den Korrelationen sowie den grundlegenden Treibern und Wechselwirkungen, die im Fokus auf die planetaren Grenzen ebenfalls aus dem Raster fallen. Deutlich wird dies, wenn wir die Frage nach den planetaren Grenzen auf uns selbst anwenden und danach fragen, wo in Bezug auf unsere eigene Art die Grenzen der globalen Tragfähigkeit liegen. Anders nämlich als in unserem Umgang mit allen anderen Arten, die wir anhand der Kategorien des »Nützlichen« und »Schädlichen« betrachten und dabei begreifen, dass selbst Nützlinge zu Schädlingen werden, wenn sie sich zu stark vermehren und das atmende Gleichgewicht ihres Ökosystems aus dem Lot bringen, betrachten wir uns selbst mit dem Gebot Gottes. Es stellt uns scheinbar über die Natur und damit außerhalb der Kategorien von Nützlingen und Schädlingen. In dieser Selbsterzählung zu unserer Besonderheit sind wir aufgefordert, die Natur für uns fruchtbar zu machen, damit wir uns auf Gottes Geheiß hin in der Welt mehren. Wo wir dazu in die Natur eingreifen und uns legitimiert sehen, zur Wahrung unserer Interessen einzelne Populationen oder sogar komplette Arten herauszunehmen, wenn sie uns im Wege stehen, nehmen wir uns selbst von diesem Vorgehen aus. Das deshalb, weil der Idee des Mensch-seins nach jeder Mensch ein auserwähltes Geschöpf Gottes ist, das zählt. Allein schon aus humanistisch-ethischen Gründen ist es folglich für uns selbstverständlich, dass jedes Menschenleben ohne Wenn und Aber zu retten und zu schützen sei. Das aber führt in eine Falle, die tiefer greift als das von Thomas Malthus in seinem »Essay on the Principle of Population« analysierte Problem der Tragfähigkeit des menschlichen Bevölkerungswachstums, wenn dieses höher ausfällt als die Steigerung der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelproduktion.[6] Es ist eine psycho-kognitive Wahrnehmungsfalle. Sie entsteht, wenn wir die Welt anhand der menschlichen Kategorien von Freiheit, Knappheit, Gerechtigkeit und Wohlstand betrachten und dabei in Anschlag bringen, dass die Errungenschaften unseres heutigen Lebensstandards der Maßstab sind, an dem diese Kategorien auszurichten sind.

Betrachten wir die Welt anhand der Kategorien Freiheit, Knappheit, Gerechtigkeit und Wohlstand stehen wir vor folgenden Gegebenheiten, die in den Kern des Krisenhaften der Menschheit führen. Während die weltweite Biokapazität mit rund 12,2 Milliarden Globalhektar (Gha) bioproduktive Fläche[7] weder in nennenswerte Weise weiter ausgedehnt noch angesichts des heutigen Industrialisierungsgrades der Landwirtschaft in ihrer Produktivität signifikant angehoben werden kann, wächst die menschliche Bevölkerung ungebremst rasant an. In der Folge stehen den einzelnen Menschen rein rechnerisch gesehen immer weniger Anteile am globalen Ressourcengrundstock zur Verfügung: Konnte ein Mensch im Jahr 1800 für die Aufrechterhaltung seiner Bedürfnisse einen kalkulatorisch gerechten Anspruch auf 12.449 Gha pro Kopf erheben, waren es im Jahr 1900 nur noch 7,4 Gha, im Jahr 2000 2,0 Gha und bei der heutigen Weltbevölkerung von rd. 7.9 Milliarden rund 1,5 Gha pro Kopf und Jahr. Setzt sich die Bevölkerungsentwicklung wie von der UN vorhergesagt fort[8], stehen im Jahr 2050 jedem der dann 9.74 Milliarden Menschen 1,3 Gha sowie im Jahr 2100 den prognostiziert 10,84 Milliarden Menschen lediglich noch 1,1 Gha pro Kopf und Jahr zur Verfügung.

Potenziert wird dieser Sachverhalt durch eine Besonderheit der von uns gelebten Weltverhältnisse. Es ist die Korrelation von Ressourcenverbrauch, Bildung, Wissen, Lebensstil, Macht, Reichtum und Wohlstand: Je gebildeter, mächtiger und wohlhabender einzelne Menschen oder Staaten sind, desto größer ist ihr Ressourcenverbrauch und umgekehrt. Deutlich wird dieser Zusammenhang von Bildung, Macht, Wohlstand und ökologischem Fußabdruck anhand des »Earth Overshoot Days«, sprich der Betrachtung, bei welchem Lebensstil die globale Ressourcennutzung das jährliche globale Ressourcenwachstum übersteigt. In dieser Betrachtung korrelieren die Staaten mit dem höchsten Wohlstands-, Bildungs- und Wohlfahrtsgrad auf der einen Seite sowie die Staaten mit der höchsten Macht- und Kapitalkonzentration auf der anderen Seite mit jenen Staaten, die für den größten globalen Ressourcenraub verantwortlich zeichnen. (siehe Abb. 2) Was dies konkret bedeutet, zeigt der Earth Overshoot Day: Ihm gemäß hat die komplette Weltbevölkerung im Jahr 2021 zum Stichtag 29.7.2021 den ihr zur Verfügung stehenden erneuerbaren Ressourcengrundstock aufgebraucht. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die Weltbevölkerung ihren heutigen Lebensstandard durch einen Ressourcenraubbau absichert, der gut 1,7 Erden benötigen würde, wenn sie sich nachhaltig aufrechterhalten wollte. Nimmt man das Wohlstands- und Konsumverhalten einzelner Länder zum Maßstab für einen global gerechten Wohlstand, würde nach Berechnungen der jeweiligen Country Overshoot Days die heutige Menschheit beim Lebensstandard von Qatar 9,1 Erden benötigen, bei dem von Luxemburg 7,9 Erden, bei dem der USA, von Kanada und Kuweit 5 Erden, dem von Norwegen und Saudi Arabien 3,6 Erden sowie bei dem von Russland, Deutschland und China 3,4 bzw. 2,9 bzw. 2,3 Erden, wollte sich die Menschheit entsprechend des jeweils in Anschlag gebrachten Länderwohlstandsniveaus nachhaltig aufrechterhalten.

Abb. 2. Country Overshoot Days [9]

Anhand dieser Zahlen zum globalen Ressourcenraubbau kann die psycho-kognitive Hürde freigelegt werden, die wir zu überwinden haben, wenn wir uns gegen die Krisen wappnen wollen, die wir selbst in die Welt gebracht haben. Diese Hürde ist ein Fangeisen mit einem Schlag- und einem Fangbügel. Der Fangbügel ist unser Hang zur Selbstbezüglichkeit bzw. genauer die Vorstellung, dass unsere Überzeugungen und Werte und damit unser Lebensstil der Maßstab ist, an dem sich unser Umgang mit der Welt auszurichten hat. Bezogen auf das Krisenhafte der Menschheit befördert diese Selbstbezüglichkeit in unserem Denken und Handeln eine Externalisierungslogik, mit der wir uns sowohl moralisch als auch lebenspraktisch auf Kosten Dritter besser stellen wollen. Deutlich wird dies an den Nachhaltigkeitsdebatten selbst. Hier fordern wir beispielsweise von Unternehmen oder Staaten, dass sie ihr Verhalten nachhaltiger ausgestalten sollen und erwarten dabei zugleich, dass wir den von uns liebgewonnenen Lebensstandard weitestgehend halten können. Damit dies gelingt, setzen wir beispielsweise auf Bio-Engineering, bei dem Kühe und deren Verdauungstrakt durch genetische und andere züchterische Eingriffe sowie eine veränderte Diät etwa mit Meeresalgen anstelle Gras so verändert werden sollen, dass bei den Verdauungsprozessen weniger bis kein Methan mehr produziert wird und wir so weiterhin dem Fleisch- und Milchproduktkonsum frönen können. Wir verdrängen dabei nicht nur, dass dies zum weiteren Ressourcenraubbau an den bestehenden Ökosystemen führt, die von uns vorwiegend deshalb zerstört werden, damit wir die von uns bevorzugten Güter anbauen können, sondern auch, dass wir dadurch den Tieren möglicherweise ein noch größeres Leid zufügen also schon heute, wo die industrielle Fleisch- und Milchwirtschaft eher einer konzentrationslagerhaften Tötungsmaschinerie gleicht als einem ethisch tragfähigen Umgang mit der Mitwelt, die dem von Albert Schweizer, Albert Einstein oder auch Hans Küng angemahnten Ethos der Ehrfurcht vor dem Leben verpflichtet ist.

Der Schlagbügel unserer psycho-kognitiven Falle ist dagegen die Verdrängung unserer Unfähigkeit, realistisch mit den komplexen Zusammenhängen und Wechselwirkungen der faktischen Gegebenheiten umgehen zu können. Exemplarisch kann dies an den Debatten zum Klimawandel und der irrigen Hoffnung verdeutlicht werden, dass wir den rosa Elefanten besteigen können, mit dem wir die Erderwärmung bei 1,5° einfrieren könnten. Sieht man die geophysikalischen Zusammenhänge mit nüchternem wissenschaftlichem Blick, könnte dieses Ziel nur dann eingehalten werden, wenn wir in Gesamtsumme lediglich noch finale 42,2 Gigatonnen CO2 in die Umwelt bringen. Das ist das verbleibende CO2-Budget, das uns noch zur Verfügung steht, wenn wir das 1,5°-Ziel einhalten wollen. Wie die CO2-Uhr des Berliner Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change ausweist, wäre dieses Budget bei konstanten Emissionen von 1337 Tonnen pro Sekunde (das entspricht dem Eintrag des Jahres 2019), von jetzt an gerechnet in weniger als acht Jahren komplett aufgebraucht.[10] Danach dürften zur Einhaltung das 1,5°-Ziels keine zusätzlichen CO2-Emmissionen in die Atmosphäre eingetragen werden. Wollten wir das umsetzen, würde das faktisch bedeuten, dass wir auf globaler und lokaler Ebene unsere heutigen Formen der Mobilität, der Wärme-, Licht- und Elektrizitätsversorgung sowie aller sonstigen Lebens- und Konsumgewohnheiten (Wohnen, Essen, Kleidung …) auf ein faktisches Niveau zurückführen müssten, das angesichts der Vielen, die wir heute schon sind, eher zum Niveau steinzeitlicher Subsistenzwirtschaften passt, als zum Lebensstil jener Länder, die mit ihrem Lebensstandard die Folie für die Wünsche abgeben, wie wir bevorzugt leben wollen und deshalb im Fokus der Country Overshoot Days stehen. Wollten wir diesen Rückbau unseres gewohnten Lebensstils dennoch wagen, wir würden als die aggressivste und kriegerischste Art, die diesen Planeten je bevölkert hat, uns im dann anstehenden Verteilungskampf darüber, wer was von dem Wenigen bekommt, wohl wechselseitig totschlagen. Es ist das Hobbs’sche Szenario des Krieges aller gegen alle, das von der Aufklärung und den Errungenschaften der modernen Rechtsstaatlichkeit eingehegt worden ist, jedoch zum Preis der Entwicklung eines Lebensstandards, an dem wir uns selbst mit Blick auf die von uns geführten Gerechtigkeitsdebatten und ihrem Spiegel – der Country Overshoot Days – zugrunde zu richten drohen.

Was also tut not? Eine Rückbesinnung auf die tatsächlichen Sachverhalte. Hierzu gehört als erstes, dass wir uns zu verabschieden haben von der Heiligengeschichte, die besagt, dass wir es seien, die das Wohl und Wehe der Welt in den Händen halten würden. Diese Allmachtphantasie ist allein deshalb schon falsch, weil wir angesichts der Unwägbarkeiten, der Komplexität und der Ambiguität der Weltverhältnisse nur eines selbst in der Hand haben können, nämlich: wie wir selbst uns in der Welt bewegen. Das Schicksal der Welt liegt dagegen außerhalb unseres Einflusses. Hier kommt der zweite Sachverhalt zum Tragen, dem wir uns stellen müssen. Wollen wir bestehen, müssen wir von der Natur lernen. Von der Natur lernen heißt, zu begreifen, dass und warum wir ein Teil der Natur sind und damit genauso hinfällig, wie alles andere, was lebt, – eben Gleiche unter Gleichen, die nur dann bestehen bleiben, wenn sie für ihre Umgebungssysteme einen Nutzen stiften, der größer ist als das, was sie aus den Umgebungssystemen für sich herausziehen. Die dritte Einsicht ist deshalb, dass uns nicht die globalen Krisen, sondern wir uns mit diesen Krisen selbst bedrohen. Wo wir verstehen, dass wir der Treiber dieser Krisen sind, müssen wir uns selbst als das Krisenhafte begreifen. Für die Nachhaltigkeitsdebatten bedeutet dies, dass wir uns ehrlich zu machen haben: wir benötigen keine Initiativen wie etwa die zum Klima- und Naturschutz, mit denen wir uns vor uns selbst verstecken können, sondern Initiativen, mit denen wir uns zu uns selbst bekennen. Was Not tut ist kein Natur- oder Klimaschutz, sondern ein Menschenschutz; – nämlich der Schutz der Menschen vor uns selbst.

Ein erster Schritt in Richtung eines tragfähigen Schutzes vor uns selbst wäre, dass wir, so Peter Singer, uns vom »Speziesismus« verabschieden, d.h. von der Vorstellung, dass einzelne Arten und insbesondere wir selbst etwas Besonderes seien, das über allem anderen steht.[11] Wir sind nicht besonders und stehen auch nicht über dem Anderen, das lebt. Denn auch die am weitesten in der Nahrungskette oben stehenden Lebewesen leben am Ende ausschließlich davon, dass es die Amöben, die Asseln, Würmer und andere scheinbar niedere Kreaturen sind, die den Kreislauf des Lebendigen tragen. Und wie bei allem, was nur deshalb ist, weil es von, mit und aus Anderem lebt, das es benötigt, um selbst zu sein, ist dieses Andere, das vermeintlich Niedere und von uns Verachtete das Bedeutsamere als das Eigene. Erst wo wir das erkennen und emotional annehmen, werden wir Teil der Natur und in und mit ihr zukunftsfähig. Gelingt uns das nicht, nehmen wir den Weg der vielen anderen Arten vor uns, die sich wie wir aus eigenen Stücken aus dem Reich des Lebendigen katapultiert haben. Dass es für uns so kommt, ist jedoch noch nicht ausgemacht. Klar aber ist: als Menschheit in der Krise stehen wir am Scheideweg. Was das bedeutet und was daraus folgt, soll in nachfolgenden Beiträgen in diesem Blog sowie im Blog „Zukunftsfähig Wirtschaft“ das Thema sein.

© Dr. Friedrich Glauner, Weltethos-Institut Tübingen


[1] Vgl. Deutsche Stiftung Weltbevölkerung https://www.dsw.org/weltbevoelkerung/ (Zugriff 10.11.2021); Statista: Entwicklung der Weltbevölkerungszahl von Christi Geburt bis zum Jahr 2020 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1694/umfrage/entwicklung-der-weltbevoelkerungszahl/ (Zugriff 10.11.2021)

[2] Hans Rosling: Factfulness. Wie wir lernen die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin: Ullstein 2019

[3] Will Steffen et.al.: Planetary Boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science, 13 Feb. 2015, Vol 347, Issue 6223, DOI: 10.1126/science.1259855 https://www.science.org/doi/10.1126/science.1259855 angepasst und übersetzt in: Benno Keppner, Walter Kahlenborn (Adelphi research gGmbH, Berlin), Holger Hoff, Wolfgang Lucht, Dieter Gerten (Potsdam Institute for Climate Impact Research, Potsdam), Holger Hoff (Stockholm Environment Institute, Stockholm): Planetary Boundaries: Challenges for science, civil society and politics. Final Report. Environmental Research of the Federal Ministry for the Environment, Nature Conservation and Nuclear Safety Texte 183/2020, S. 18

[4] Thomas A. Neubauer, Torsten Hauffe, Daniele Silvestro, Jens Schauer, Dietrich Kadolsky, Frank P. Wesselingh, Mathias Harzhauser und Thomas Wilke: Current extinction rate in European freshwater gastropods greatly exceeds that of the late Cretaceous mass extingtion. Communications Earth & Environment Vol. 2, Article No. 97(2021). DOI: https://doi.org/10.1038/s43247-021-00167-x / https://www.nature.com/articles/s43247-021-00167-x.pdf (Download Oct. 15th, 2021)

[5] Yinon M. Bar-On, Rob Phillips, Ron Milo: The biomass distribution on Earth. In: PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences), Vol. 115, Nr. 25, pp. 6506-6511, first published May 21, 2018 DOI: 10.1073/pnas.1711842115.

[6] Thomas Malthus: An Essay on the Principle of Population. Eds. by Geoffrey Gilbert. Oxford: Oxford University Press (Oxford World’s Classics) 2008.

[7] Vgl. Global Footprint Network und Earth Overshoot Day.org: https://www.footprintnetwork.org/our-work/earth-overshoot-day/ sowie http://www.agenda21-treffpunkt.de/lexikon/globaler_Hektar.htm

[8] Vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs: World Population Prospects 2019. https://population.un.org/wpp/Publications/Files/WPP2019_Highlights.pdf (Zugriff 10.11.2021)

[9] Vgl. https://www.overshootday.org/content/uploads/2021/01/Country-Overshoot-Days-2021.pdf (Download/Zugriff 15. November 2021)

[10] Vgl. https://www.mcc-berlin.net/forschung/co2-budget.html

[11] Peter Singer: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere. Reinbek: Rowohlt 1996.

Über den Autor:

Dr. Friedrich Glauner

Dr. Friedrich Glauner

Dr. Friedrich Glauner ist Philosoph und Autor. Er studierte Philosophie, Wirtschaftswissenschaften, Religionswissenschaften, Geschichte und Semiotik. Am Weltethos-Institut lehrt er zukunftsfähige Geschäftsmodellentwicklung, werteorientierte Unternehmensführung und Unternehmensethik.