Ein Interview mit Dr. Hannes Kuch, einem Fellow des Weltethos-Instituts, über seine Forschungsarbeit zur Beurteilung des Lieferkettengesetzes mit Blick auf Verantwortung und Entscheidungen von Führungskräften in der Unternehmenspraxis.
Das Interview führte Mira Weiss vom Weltethos-Institut.
„Die Reziprozität von Menschenpflichten und -rechten als Basis für eine Prüfung und Beurteilung von Verantwortung, Entscheidungen und Führungspraxis von Vorständen und Geschäftsführungen“. Das Projekt hat einen langen und komplexen Arbeitstitel – Können Sie uns Ihr Projekt in wenigen Sätzen und leichter Sprache erklären?
Dr. Hannes Kuch: „Mit ‚Reziprozität‘ ist hier der wechselseitige Bedingungszusammenhang gemeint, der zwischen der Verwirklichung von Menschenrechten und einem lebendigen Sinn für menschenrechtliche Pflichten besteht, also das, was Küng Menschenpflichten nennt. Aus dieser Idee ergibt sich ein spezifischer Bewertungsmaßstab für das Handeln von Unternehmensleitungen. Das ist natürlich ein ganz anderer Maßstab, als wenn man beispielsweise nur eine betriebswirtschaftliche Brille aufsetzt – oder wenn man fälschlicherweise davon ausgeht, dass Menschenrechte nur eine Sache der Vereinten Nationen oder von Regierungen wären.“
Was ist für Sie die wichtigste Frage, der Sie in dieser Arbeit nachgehen?
Dr. Hannes Kuch: „Welche institutionellen Mittel und Wege gibt es für die Kultivierung eines Menschenrechtsethos? Mit dem Fokus auf Institutionen geht es um mehr und anderes als abstrakte normative Prinzipien. Es geht auch um mehr und anderes als die Absichten oder den Charakter von einzelnen Manager:innen. Ulrich Hemel betont das sehr gut: Institutionen prägen Haltungen, und Haltungen bahnen den Weg für spezifische Handlungen und erschweren andere. Gute Institutionen prägen gute Haltungen und fördern damit potentiell gute Handlungen, bei schlechten Institutionen gilt jedoch dasselbe, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Vor diesem Hintergrund geht es zum Beispiel um die gute und wirksame Ausgestaltung der gesetzlichen Regulierung. Es geht aber auch um institutionelle Formen wie zum Beispiel Multi-Stakeholder-Initiativen, die in transnationalen Wirtschaftsbeziehungen eine sehr wichtige Rolle spielen. Längerfristig steht für mich die Frage nach einer wirtschaftsdemokratischen Transformation der Unternehmen im Mittelpunkt, etwa durch die Einbeziehung aller betroffenen Stakeholder in die Aufsichtsräte – sodass nicht nur Eigentümer:innen und Beschäftigte vertreten wären, sondern auch Umweltschutzvereinigungen, Verbraucherschutzverbände und vor allem Menschenrechts-NGOs, was natürlich für das Weltethos-Projekt besonders wichtig wäre. Auch Diskussionen um neue Eigentumsformen von Unternehmen interessieren mich, wie etwa die derzeitige Debatte um Verantwortungseigentum als neuer Rechtsform.“
In ihrem Exposé zeigen Sie vier „Forschungslücken“ auf, die Sie im Bereich Menschenrechtspflichten/Lieferkettengesetz herausgearbeitet haben. Können Sie diese kurz vorstellen?
Prof. Hannes Kuch: „Erstens ist die Debatte um die Lieferkettenregulierung inzwischen so weit verzweigt, dass allein schon eine systematische Rekonstruktion der zentralen Paradigmen und Argumentationsstränge eine Forschungslücke ist. Zweitens scheint es trotz der wirklich breiten Diskussionen in normativer Hinsicht immer noch offene oder sogar weitgehend übersehene Fragen zu geben. Das betrifft etwa den Punkt, dass deutsche Unternehmen lediglich dazu verpflichtet werden, das geltende Recht in den Zulieferländern zu achten. So jedenfalls kann man das Gesetz verstehen, was natürlich menschenrechtlich äußerst problematisch ist. Das ist, als würde man deutschen Unternehmen sagen: ‚Bitte achtet von nun an wirklich die Gesetze vor Ort!‘ – wobei die Gesetze in vielen Fällen ohnehin schon schwach genug sind, etwa die Mindestlohnstandards. Was naturgemäß noch eine Lücke ist – damit komme ich zum dritten Punkt –, betrifft die praktische Umsetzung des Gesetzes: Hier muss empirisch sehr genau untersucht werden, wie stark sich die beanstandeten Mängel des Gesetzes tatsächlich negativ auswirken. Das bezieht sich etwa auf die breit bemängelte weitgehende Beschränkung der Sorgfaltspflichten auf den ersten Zulieferer, was natürlich ein scheunentorgroßes Schlupfloch für Unternehmen schafft; so könnten beispielsweise Briefkastenzwischenhändler geschaffen werden, die die Vorprodukte einfach durchreichen, und schon wäre dem Gesetz genüge getan, aber eben nur auf dem Papier. Viertens scheint es noch an praktischen Verbesserungsvorschlägen zu fehlen, was Schwachstellen der Gesetzgebung betrifft. Das betrifft etwa die Frage, wie genau die Beschwerdemechanismen noch robuster gemacht werden könnten, etwa durch unternehmensexterne Kanäle oder die garantierte Einbindung von Gewerkschaften.“
Der Menschenpflichten-Ansatz kommt von Hans Küng. Was fordert Küng mit diesem Ansatz insbesondere von Unternehmer*innen?
Prof. Hannes Kuch: „Nicht einfach nur dem Profitkalkül zu folgen, sondern sich der eigenen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu werden. Diese Verantwortung trägt prinzipiell jeder Akteur, auch Privatpersonen. Aber Unternehmen stehen besonders stark in der Verantwortung, weil diese besonders große gesellschaftliche und politische Einflussmacht haben können und weil von diesen besonders schwerwiegende Schädigungen von Menschenrechten ausgehen können – beides weit über nationale Grenzen hinaus. Für große Konzerne und multinationale Unternehmen gilt das natürlich in einem ganz anderen Maße als für den kleinen Handwerksbetrieb in der Nachbarschaft.“
Hätte Küng den Ansatz Menschenrechtspflichten auf gesetzlicher Ebene zu regulieren, befürwortet, wo er sich doch ausdrücklich gegen gesetzliche Regulierungen ausgesprochen hat?
Prof. Hannes Kuch: „Küng ging es vor allem um die Kultivierung eines eingefleischten Menschenrechtsethos. Wie genau diese Kultivierung gelingen kann und mit welchen Schwierigkeiten man damit konfrontiert ist, darüber gibt es Kontroversen. Inzwischen hat sich weitgehend die Einsicht durchgesetzt, dass bloße Appelle und das optimistische Vertrauen in die freiwillige Selbstverpflichtung nicht ausreichen. Das hat nicht zuletzt die sozialwissenschaftliche Forschung gezeigt. So musste die Merkel-geführte Bundesregierung konsterniert feststellen, dass eine von ihr selbst beauftragte langjährige Studie ergab, dass über 80% der großen deutschen Unternehmen ihre Menschenrechtspflichten nicht hinreichend erfüllen – und das obwohl die Unternehmen ganz genau wussten, dass sie unter Beobachtung stehen.“
Was bedeutet das Lieferkettengesetz für unsere gesellschaftliche Ethos-Bildung?
Dr. Hannes Kuch: „Der Vorbehalt von Küng gegen eine gesetzliche Regulierung lag unter anderem darin, dass Regulierungen eine ‚legalistische Mentalität‘ fördern könnten: Eine solche Mentalität will Gesetze möglichst stark dehnen oder gezielt nach Lücken durchforsten. Das kann sicherlich eine Gefahr sein. Die Quelle dieser Mentalität liegt aber nicht unbedingt in der Rechtsform als solcher, sondern viel eher in dem breiteren wirtschaftlichen Kontext, vor allem den systemischen Zwängen unseres Wirtschaftssystems. Angesichts dieser Zwänge können gute Gesetze sogar eher dazu beitragen, ein geteiltes Ethos zu stärken: Wenn man sich aufgrund der gesetzlichen Regulierung relativ sicher sein kann, dass die Konkurrenz in der eigenen Branche keine Menschenrechtsnormen verletzen wird, wächst die eigene Bereitschaft, sich an diese Normen zu halten. Auf dieser Basis kann im Verlauf der Zeit eine eingefleischte Haltung entstehen.“
Was bedeutet Weltethos für Ihr Projekt konkret? Was bedeutet Weltethos für Sie?
Dr. Hannes Kuch: „Weltethos bedeutet für mich und mein Projekt zunächst einmal anzuerkennen, wie sehr vermeintlich ‚westliche‘ Errungenschaften, wie die Idee universeller Menschenrechte, durch transkulturelle Prozesse angestoßen und vorangebracht wurden, etwa durch den Sklavenaufstand in Haiti, 1791, oder durch den Einfluss der Kritik indigener Akteure an der damaligen Ständegesellschaft Europas, mit der neuzeitliche Entdecker:innen und Missionare vor allem in Amerika konfrontiert waren. Vor allem muss mit Weltethos gemeint sein, nach den globalen Verstrickungen zu fragen, in die wir in Europa schon lange, seit dem neuzeitlichen Sklavenhandel, dem Kolonialismus und der darauf aufbauenden Ausbeutung des globalen Südens, eingebunden sind. Daraus ergibt sich eine Verpflichtung zur Solidarisierung mit den sozialen Bewegungen und Kämpfen aus dem globalen Süden – und auch zur philosophischen Auseinandersetzung mit Theoretiker:innen aus diesem Teil der Welt. Vor diesem Hintergrund müssen wir daran arbeiten, eine transnationale Öffentlichkeit und einen ‚Kosmopolitismus von unten‘ zu stärken. Die Weltsozialforen waren in dieser Hinsicht wichtig, die anstehende ‚Global Assembly‘ in Frankfurt 2023/2024 könnte ein weiterer Schritt in die richtige Richtung werden.“