An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

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"Also ist Nachhaltigkeit die Alternative zum Kapitalismus“

Akademische Trauerfeier für Gerhard Scherhorn

Gerhard Scherhorn - Foto © Monika von BrandtAm Trauerfeier für Gerhard Scherhorn - Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für FGEÖR04.05.2018 richtete die Forschungsgruppe Ethisch-Ökologisches Rating an der Frankfurter Goethe-Universität eine akademische Trauerfeier für ihren langjährigen Vorsitzenden Prof. Gerhard Scherhorn aus. Es sprachen die Professoren Lucia Reisch, Kopenhagen, Johannes Hoffmann, Frankfurt, und Peter Hennicke, Wuppertal. Der EÖR-Blog dokumentiert.

I.
Johannes Hoffmann – Die Forschungsgruppe Ethisch-Ökologisches Rating

Johannes Hoffmann - Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für FGEÖRWir sind zusammengekommen, um von Gerhard Scherhorn Abschied zu nehmen und uns an ihn zu erinnern. Abschied – das bedeutet intensive und dichte Kommunikation. Vielleicht ist Abschied überhaupt die dichteste Form von Kommunikation. Eine Kommunikation, die sich ganz auf den anderen konzentriert; eine Kommunikation, in der der Beziehung mit dem anderen Vorrang gegeben wird. Der eine ist für den anderen ganz präsent. Im Abschied kommt eine Unmittelbarkeit zustande, in der die Beziehung zueinander in ihrer Ganzheit gegenwärtig ist. Im Augenblick des Abschieds verschmelzen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in eins.

Andererseits ist auch die Zuwendung zum anderen beim Abschiednehmen so ausschließlich, dass wir alles, was um uns herum geschieht, vergessen. Denken wir z.B. an einen Abschied vor einer Reise am Bahnhof: Wenn wir uns von einem Freund, von einer Freundin, von einem Menschen, den wir lieben, verabschieden, weil wir uns für eine Weile trennen müssen, dann sind wir dem anderen so nah und so fest zugewandt, dass wir die Betriebsamkeit und Eile um uns herum gar nicht wahrnehmen.
Wir stehen wie auf einer Insel im Gewoge der Menschen um uns. Nichts stört uns, nichts kann uns davon ablenken, die Gegenwart des anderen zu genießen, seine Präsenz angesichts der Trennung voll auszukosten. Wir sind mit unserem Denken, Fühlen, Hoffen und Wünschen ganz beim anderen.
Heute nehmen wir Abschied von Gerhard Scherhorn: Wir tun das in Gemeinschaft, aber auch jede/jeder für sich. Alle, die hier bei der Abschiedsfeier dabei sind, erinnern sich in diesem Augenblick der Beziehung, in der sie zu Gerhard Scherhorn gestanden sind, mit ihm gelebt haben, ihm begegnet sind, mit ihm gearbeitet, diskutiert, gestritten, gelernt und gelacht haben. Abschied bedeutet zwar immer Unterbrechung oder auch Trennung, aber Abschied ist nicht das Ende einer Beziehung. Beziehungen gehen über den Tod hinaus. Dies geschieht nicht nur dadurch, dass wir bei bestimmten Anlässen oder an bestimmten Orten immer wieder an Gerhard Scherhorn erinnert werden. Wir können mit Gerhard, der gestorben ist, auch weiter Zwiesprache halten auf der Basis und entsprechend der Erfahrung, die wir zu seinen Lebzeiten mit ihm gemacht haben.
Es gibt in jeder Kultur die Erfahrung von der Gegenwart der Verstorbenen, von der Präsenz der Ahnen.
Diese Erfahrung kann so stark sein, dass wir ganz selbstverständlich wie immer mit dem Verstorbenen Zwiesprache halten. Unser Zuspruch wird nicht ohne Resonanz bleiben, sondern in einer Weise eine Antwort erfahren, die zwar ganz anders als früher ist, die aber dennoch eine Antwort von ihm ist, ein Zeichen seiner Gegenwart bei uns in unserer Mitte.
Wir wollen Gerhard Scherhorn aus dieser Erinnerung heraus unter uns gegenwärtig setzen. Dies kann dadurch geschehen, dass wir Situationen, die uns mit ihm zusammengeführt haben, in denen wir ihm begegnet sind, mit ihm gearbeitet und geforscht haben, uns vergegenwärtigen. So wird er uns in vielen Bildern aus der Vergangenheit präsent, steht uns deutlich vor unseren Augen. Dann können wir uns von ihm in eine neue Beziehung hinein verabschieden. Eine neue Form der Beziehung mit ihm realisieren, die an dem anknüpft, wie wir ihn erlebt haben. Treten wir mit ihm in eine Kommunikation ein, für die der Tod, durch den er von uns getrennt wurde, keine Grenze bedeutet. Er kann uns in neuer Form über den Tod hinaus in unserm Leben und Feiern leibhaftig gegenwärtig sein, wenn wir es wollen.
Indem wir hier mit ihm eine neue Form der Beziehung beginnen, können wir darauf vertrauen: Gerhard Scherhorn ist jetzt mitten unter uns.  Während wir dies hier tun, nehmen wir in unsere Kommunikation mit ihm auf, dass in diesem Augenblick ein wichtiger Freund und Wegbegleiter, nämlich Prof. Dr. Klaus Michael Meyer-Abich beerdigt wird.  Auch an ihn sollten wir mit Gerhard jetzt in einer Schweigeminute erinnern.  –
Erinnerung unseres Zusammenwirkens mit Gerhard Scherhorn in der FG EÖR
Ich möchte an Gerhard Scherhorn aus der über 20-jährigen gemeinsamen Leitung der Forschungsgruppe Ethisch Ökologisches Rating (FG EÖR) am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt erinnern. Zunächst möchte ich ihm danken. Er war Prof. für Volkswirtschaft an der Hochschule in Hamburg, dann Professor für Konsumforschung und Verbraucherpolitik an der Universität Hohenheim in Stuttgart, Direktor der Arbeitsgruppe „Neue Wohlstandsmodelle“ im Wuppertal Institut, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, beim Verbraucherbeirat beim Bundesminister für Wirtschaft, Mitglied des Verwaltungsrats der Stiftung Warentest sowie Mitherausgeber des Journal of Consumer Policy, um nur ein paar Stationen seiner umfangreichen Forscher- und Beratertätigkeit zu nennen. In seiner Lehr- und Vortragstätigkeit hat er einige Generationen von Studentinnen und Studenten als Lehrer und Berater geprägt. Aus seiner ersten Lehrtätigkeit als Professor der Volkswirtschaftslehre in Hamburg ist hier eine Schülerin anwesend, nämlich Elly Klinkenberg aus Aachen. Und Gerhard Scherhorn hat mit mir zusammen die FG EÖR ins Leben gerufen und über 20 Jahre geleitet.
1989 sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Gotthard Fuchs, Leiter der Rabanus Maurus-Akademie in Wiesbaden-Naurod hat uns beide gefragt, ob wir miteinander eine Tagung zu einem von uns zu wählenden ökologischen Thema konzipieren  und durchführen könnten. Gerhard Scherhorn fragte mich, welches Thema ich mir vorstellen könnte und ich sagte: „Ethisch-ökologisches Rating“. Gerhard war von dem Vorschlag begeistert und so machten wir uns an die Arbeit. Die damalige Akademieklientel hatte ein solches Thema wohl noch nicht auf dem Schirm und so kam die Tagung mangels Masse nicht zustande.
Aber wir haben uns bei der Gelegenheit kennen gelernt und entdeckten beide -wenn auch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven- unser gemeinsames Interesse an nachhaltiger Entwicklung im Rahmen der Marktwirtschaft. Die Gelegenheit für eine konkrete Zusammenarbeit ergab sich nach einer Tagung mit Bankmanagern in der Evangelischen Akademie in Bad Boll zum Thema „Saubere Gewinne – Ethisch Vermögensanlagen in der Diskussion“ im März 1991. Am Ende der Tagung wurde ich gefragt, ob ich nicht eine Forschungsgruppe zur Entwicklung einer Kriteriologie zur Bewertung von Kapitalanlagen bilden könnte, weil man im Lande der Dichter und Denker ein wissenschaftlich entwickeltes und methodisch gestütztes Bewertungssystem benötige. In Deutschland könne man nicht wie in den USA agieren, wo ein Fonds schon als ethisch gilt, wenn er nicht in Tabak investiert. Diese Aufforderung habe ich angenommen, mich mit Gerhard Scherhorn zusammengesetzt und mit ihm die FG EÖR 1992 gegründet. Unser Beitrag war und ist bis auf den heutigen Tag getragen von dem Bemühen, verborgene Sachverhalte bloßzulegen, Ungesehenes sichtbar zu machen, aus überholten Traditionen herauszulocken, Mut für neue Wege zu machen, effektive Altruisten zu begleiten und zu fördern, einen Weg „subversiver Integration“ zu gehen, damit Menschwerdung in Gemeinschaft im Mit-Sein mit der Schöpfung gelingen kann.
Das war ganz im Sinne von Gerhards Freund, Klaus Michael Meyer-Abich; der Naturphilosoph begleitete uns bei der Entwicklung der Kriteriologie korrespondierend. U.a. schrieb er mir am 9. Juni 1997: „Vielen Dank für Ihren Brief und das Manuskript zur Kulturverträglichkeit. Ich finde Ihre Überlegungen zutiefst einleuchtend, genauso möchte ich mir die Wiedereinbindung der Wirtschaft in den kulturellen Zusammenhang unserer Gesellschaft vorstellen! Natürlich freue ich mich, wenn Sie sich dabei auch auf meine Überlegungen beziehen. Besonders gefallen hat mir, dass Sie dieses große und schwierige Thema in einer relativ lockeren Form zu behandeln wissen. Vermisst habe ich allenfalls, dass Sie daraus nicht gleich ein kleines Buch gemacht haben, denn viele schöne Gedanken werden nur allzu kurz angedeutet…Mir scheint, Ihre Gedanken sind so ausgereift, dass es schade wäre, wenn Sie sie nicht in aller Ruhe und mit einem etwas längeren Atem auf mindestens 100 Seiten entwickelten.“
Das motivierte natürlich. Es scheint nach mehr als 25 Jahren wissenschaftlicher -und später auch politischer – Arbeit der FG EÖR zur Entwicklung von ökologischer, sozialer, ökonomischer und interkultureller Nachhaltigkeit in der Marktwirtschaft durchaus sinnvoll, einmal an die Anfänge zu erinnern und einen Blick auf die gegenwärtig laufende Arbeit zu werfen, um daraus Überlegungen für die zukünftige Forschungs- und Bewusstseinsbildungsarbeit zu gewinnen.
Es war ein Anliegen von Gerhard Scherhorn, dass in der FG EÖR Frauen und Männer aus Wissenschaft und Praxis zusammenwirken sollten. Daher war und ist die FG EÖR von Anfang an interdisziplinär, ökumenisch, interkulturell, transdisziplinär und genderübergreifend zusammengesetzt . Der Zusammensetzung entsprechend wurde die Entwicklung von Nachhaltigkeit in den Wirtschaftswissenschaften, in der Finanzwissenschaft, in Wirtschaft und Gesellschaft beobachtet und entsprechende Forschungsprojekte in Gang gesetzt.
Das erste Projekt war die Entwicklung einer Kriteriologie zur Bewertung von Unternehmen und Kapitalanlagen, also die Grundlage für ein ethisch ökologisches Bewertungskonzept. Der Wertebaum umfasst drei Dimensionen, nämlich: Naturverträglichkeit, Sozialverträglichkeit und Kulturverträglichkeit. Mit der Dimension „Kulturverträglichkeit“ waren wir der Bewusstseinslage in der BRD weit voraus. Erst seit Beginn der Flüchtlingsströme hat die Diskussion dazu begonnen. Diese Kriteriologie ist unter dem Namen „Frankfurt-Hohenheimer Leitfaden“ (FHL) als erste grundlegende und umfangreichste wissenschaftlich fundierte Kriteriologie international anerkannt. Wir waren uns aber bewusst, dass diese Kriteriologie im Kontext der abendländischen Kultur entwickelt wurde und für eine Anwendung in Länder fremder Kulturen geprüft werden musste. In einem interkulturell besetzten Symposium, das wir in der KfW veranstalteten, wurde diese Prüfung im Jahr 2000 durchgeführt und die Ergebnisse in einem Berichtsband veröffentlicht.
Gemeinsam mit der oekom research AG in München wurde der FHL in ein Ratingkonzept übertragen. Damit wurde die oekom als Ratingagentur in Europa Marktführer. Mit der Fusion der oekom research AG mit Institutional Shareholder Services Inc., dem weltweit größten Anbieter von Corporate Governance und Responsible Investment-Lösungen, hat der FHL eine ungeahnte Ausweitung auf dem Weltmarkt erreicht. Um der Stärke und dem hohen Ansehen beider Marken Rechnung zu tragen, wurde der so entstehende neue Geschäftsbereich ISS-oekom benannt.
Als zivilgesellschaftliche Konsequenz wurde im Jahr 2000 unter Mitwirkung der FG EÖR der „Verein für ethisch orientierte Investoren“ (CRIC e.V.) gegründet. Es folgte ein Jahr später, ebenfalls unter Mitwirkung der FG EÖR die Gründung des „Forum Nachhaltige Geldanlagen“ (FNG).
Eigentlich wäre damit das ursprüngliche Ziel der Zusammenarbeit in der FG EÖR erreicht gewesen. Auf Anregung von Gerhard Scherhorn lösten wir die Arbeitsgruppe aber nicht auf. Er war nämlich der Meinung, dass die Umsetzung des FHL in ein Ratingkonzept für Entwicklung des ethischen Investments eine diesen Prozess begleitende Forschungsarbeit erforderlich machte. Nicht zuletzt gehörte dazu die Diskussion und Vermittlung eines am Erhalt von Natur-, Sozial- und Kulturkapital verorteten radikalen Nachhaltigkeitsverständnisses.
Eine zukunftsfähige, die nachhaltige Entwicklung fördernde Marktwirtschaft fällt nicht vom Himmel, sie muss in beharrlicher Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Machtverhältnissen und Theorieansätzen vorangetrieben werden. Im Jahr 2002 äußerte Gerhard Scherhorn seine Sorge über eine bevorstehende weltweite Finanzkrise. Um die Gesellschaft darauf vorzubereiten, entschlossen wir uns, ein international und interkulturell angelegtes Expertensymposium durchzuführen. Zur Vorbereitung entwickelten wir eine Diskussionsvorlage, die wir den unter interkulturellem Aspekt ausgewählten Teilnehmern vorgaben. Gerhard Scherhorn hat dieses Paper federführend verfasst. Es hat den Titel: „Nachhaltige Entwicklung: Die besondere Verantwortung des Finanzkapitals“. Das Symposium mit dem Thema: „Nachhaltigkeit als Gestaltungsprinzip für die Rahmenordnungen von Finanz- und Gütermärkten“ fand im Mai 2008 in der KfW statt. Als Ergebnis wurde ein Kommuniqué veröffentlicht zum Thema: „Politische Leitplanken für nachhaltige Märkte und nachhaltigen Wettbewerb.“
Mit den Ergebnissen hat sich die FG EÖR in den danach folgenden Jahren intensiv befasst. Zunächst entstand ein Appell an den Deutschen Bundestag mit dem Titel: „Wir brauchen Gesetzesinitiativen für den nachhaltigen Wettbewerb.“ Unsere Vorschläge haben wir seither bei verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen diskutiert, wie z.B. mit Unternehmern, Managern, NGOs, Parteien, Kirchen (z.B. auf dem evangelischen Kirchentag in Hamburg und anderen Gelegenheiten, die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der Katholiken wurden informiert).
Schließlich griffen wir den Einwurf von Politikern und Unternehmern auf, dass unsere Gesetzesvorschläge ja nur deutsches Recht beträfen. Ein deutscher Alleingang sei unmöglich. Im Rahmen einer Tagung mit der Friedrich-Ebert-Stiftung wurden zwei Fachanwaltbüros mit der Frage beauftragt, ob die Vorschläge EU- und WTO-kompatibel seien. Was uns bestätigt wurde.
Gerhard Scherhorn hat bis zu seinem tragischen Fahrradunfall am 11. Juni 2013 die Forschungsgruppe Ethisch Ökologisches Rating mit mir geleitet. Seine Ideen, seine Fachkenntnis, seine innovative Kraft, sein Einfühlungsvermögen, seine Kooperationsfreudigkeit, seine Ausdauer und Geduld haben die Arbeit der FG EÖR geprägt. Durch seine klar verständlichen und sehr prägnanten Formulierungen wurden die Ergebnisse der Forschungen der FG EÖR in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik vermittelt. Wir sind traurig, dass er von uns gegangen ist. Denn wir sind noch lange nicht am Ziel.
Als Testament hat er uns sein letztes Buch hinterlassen. Es trägt den Titel: „Wachstum oder Nachhaltigkeit. Die Ökonomie am Scheideweg“. In diesem Sammelband wollte er den roten Faden zeigen, an dem er seit seiner Promotion im Jahr 1959 und dann in seiner Lehr- und Forschungstätigkeit als Professor der Volkswirtschaftslehre, der Konsumforschung und Verbraucherpolitik akribisch, beharrlich Gegenwart und Zukunft von Mensch und Mitwelt im Blick, in immer neuen Anläufen gestrickt hat.
Johannes Hoffmann spricht - Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für FGEÖRDer Sammelband entstand auf Empfehlung von Lucia Reisch anlässlich seines 80. Geburtstags. Aus dem Schatz unveröffentlichter und veröffentlichter Artikel von Gerhard Scherhorn wurde eine Summa erstellt, die sozusagen in einer Retrospektive die Entwicklung seines bisherigen Lebenswerkes auf dem Hintergrund der sich verändernden sozioökonomischen Kontexte deutlich machte. Sein plausibles Plädoyer für eine nachhaltige Wirtschafts- und Lebensweise ist das authentische Zeugnis eines Ökonomen, der schon früh die eingefahrenen Geleise der mehrheitlich marktliberalen Ökonomie verlassen hatte. Gerhard Scherhorn machte sich gleich ans Werk. Sehr schnell stellte sich dabei heraus, dass es unmöglich war, alle Arbeitsgebiete in eine solche Summa einzubeziehen. Ihm war es wichtig, die Auswahl auf einen aktuellen Bezug zuzuschneiden, nämlich die Wachstumsthematik. Diese Beiträge hat er dann für die Veröffentlichung aktualisiert.
Der Band erschien 2015 in der Reihe „Geld & Ethik“ mit dem – bereits genannten – Titel „Wachstum oder Nachhaltigkeit“. Scherhorn entfaltet darin anhand von 19 Beiträgen in 7 Schritten eine Theorie des nachhaltigen Wirtschaftens:
1. Schritt: Die Ökonomie am Scheideweg
2. Schritt: Der Mensch: Rechner oder soziales Wesen
3. Schritt: Bedürfnisse: Maßlos oder verantwortlich
4. Schritt: Der Konsum: Kaufen oder leben
5. Schritt: Die Arbeit: Job oder Tätigkeit
6. Schritt: Die Gemeingüter: Ausbeuten oder kultivieren
7. Schritt: Die Politik in der Wachstumsfalle.
Es wäre zu wünschen, dass dieses Buch als Lehrbuch der Theorie nachhaltigen Wirtschaftens in den Wirtschaftswissenschaften zur Pflichtlektüre für alle Studierenden eingeführt würde. Uns jedenfalls gibt Gerhard Scherhorn mit diesem Buch den Auftrag, weiter zu kämpfen. Zögernd, weil gegen Widerwillen breitet sich die Erkenntnis aus, dass das Streben nach Wirtschaftswachstum die nachhaltige Entwicklung verhindern wird. Beide sind Gegensätze, deren Unvereinbarkeit für alle sichtbar wird, die Augen haben, zu sehen. Damit muss auch die Einsicht in die ethischen Vorentscheidungen der Ökonomie zunehmen, denn das Fehlen dieser Einsicht war mitschuldig daran, dass der Gegensatz so lange nicht erkannt wurde. Es ist eine ethische Frage, ob die Wirtschaft in die Erhaltung der naturgegebenen Güter reinvestiert oder ob sie wie bisher die Kosten dafür spart, den kurzfristigen Gewinn maximiert und die Substanz verzehrt. Es ist eine ethische Entscheidung, ob die Wirtschaftstheorie wie bisher allein das Privateigentum oder auch das Gemeineigentum an den naturgegebenen Gütern schutzwürdig findet.
Indem wir Gerhard Scherhorn erinnern, uns seine Botschaft für Gesellschaft und Wirtschaft vergegenwärtigen, bleiben wir mit ihm in Beziehung und können Schritte zur Realisierung seiner Botschaft gehen. Seine Ideen, seine präzisen Hinweise und Aussagen, seine Deutung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität hat er uns eingegeben. Mit seinem Traum von einer nachhaltigen Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft, der Wirtschaft und der Politik assoziiere ich einen Vers von Joseph von Eichendorffs:
„Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“
Ich hoffe und wünsche, dass wir alle, die wir hier versammelt sind, an der Umsetzung seiner Botschaft wirken und sie überall dort, wo wir gesellschaftlich, politisch und wissenschaftlich verortet sind, in kreativer Weise umzusetzen versuchen. Nicht nur dadurch wird er weiterleben.
II.
Lucia Reisch: Die Hohenheimer Zeit (1975-1998)
Lucia Reisch - Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für FGEÖRIch hatte die Freude, bei und mit Gerhard Scherhorn von 1986 bis 2005 – also fast 20 Jahre – an der Uni Hohenheim in Stuttgart zu arbeiten, zuerst als Hilfsassistentin, dann als Doktorandin, später als Habilitandin, schließlich als Professorin.
Johannes Hoffman hat bereits in großen Linien die unterschiedlichen Lebensphasen von Gerhard beschrieben. Diese waren einerseits immer wieder überraschend und von der Lust auf Neues gekennzeichnet. Andererseits durchzieht seine Schaffensphasen ein roter Faden: Gerhard war weit über sein Fach (oder soll ich sagen: Fächer) und seine Profession des akademischen Lehrers und Forschers hinaus ein Suchender danach, wie man die Wirtschaft dem Menschen dienlich machen und umweltverträglich gestalten kann, wie ein gutes Leben aussieht und welchen Beitrag eine öko-soziale Marktwirtschaft dazu leisten kann. „Geld soll dienen, nicht herrschen – die aufhaltbare Expansion des Finanzkapitals“ – so ein Buchtitel von 2007 (geschrieben vor der Finanzkrise). Den Primat des Geldes und des Wachstums lehnte er ab: bei ihm stand im Mittelpunkt der Mensch und dessen Wohlergehen. Investment sollte ethisch-ökologisch sein (so hieß mein erstes Forschungsprojekt), ebenso das Wirtschaften selbst. Seine Themen hingen letztlich immer mit diesem ethischen und gesellschaftsförderlichen Anspruch zusammen.
Johannes hat mich gebeten, aus Gerhards Hohenheimer Zeit zu berichten, und das will ich gerne tun. Bei Wissenschaftlern geht man ja gemeinhin davon aus, dass nach der ersten oder zweiten Berufung – und damit zwischen 40 und 60 – die aktivste Schaffensperiode liegt. Hohenheim war Gerhards zweite Berufung auf einen Lehrstuhl (nach Hamburg), er war damals 45 Jahre alt, hatte beim damals vielleicht innovativsten Volkswirt (Günter Schmölders, der Finanzwissenschaften und Sozialökonom und Nestor der empirischen Wirtschaftsforschung) promoviert und habilitiert und sich bereits durch zahlreiche Publikationen einen Namen gemacht. Im besten Wissenschaftleralter also. Und er blieb in Hohenheim bis knapp vor der Jahrtausendwende und damit 23 intensive Schaffensjahre.
Zudem war er gerade in den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage berufen worden und genoss daher als einer der „Fünf Wirtschaftsweisen“ bei seiner Berufung nach Hohenheim schon eine gewisse Berühmtheit. Ich erinnere mich gut daran, dass meine Mutter von ihm immer als „dem Nobelpreisträger“ sprach – weil er so klug sprach und so würdig aussah. (Mein Vater war damals ebenfalls Professor an der Uni und wir Kinder wuchsen quasi auf dem Campus auf).
Ich erinnere mich auch gut an die dicken blauen Bände in seinem beeindruckenden Bücherregal. Die blauen Folianten waren die Sachverständigenrats-Gutachten, und die dort häufig zu findende Anmerkung: „Eine abweichende Meinung hierzu hat Gerhard Scherhorn“ hat mir schon damals zu denken gegeben. Gerhard hat es sicherlich nicht leicht gehabt, in den 1970er Jahren immer wieder gegen den Strom der neoklassischen Ökonomen zu schwimmen, denen es vor allem um ungebremstes Wirtschaftswachstum ging. Seine eigene Sicht von einer wohlfahrts-stiftenden Wirtschaft und Wirtschaftspolitik (Verbraucherpolitik war in seinen Augen Wirtschaftspolitik für die Nachfrageseite) – umfassend, empirisch, basierend auch auf psychologischem und soziologischem Wissen, den Menschen im Mittelpunkt und nicht einen auf Gewinnmaximierung reduzierten Homo Oeconomicus – war noch zu neu, zu sehr Nische, um verstanden zu werden. Spätestens seit dem Siegeszug dessen, was heute Verhaltensökonomik genannt wird, ist zumindest in der Ökonomischen Wissenschaft die Wende erreicht – dazu mussten aber noch 40 Jahre vergehen.
Es dauerte dann noch einige Jahre und viele glückliche Zufälle, bis ich selbst als Doktorandin mit Gerhard arbeiten durfte. Es waren ohne Übertreibung wahrscheinlich meine schönsten beruflichen Jahre: menschlich warm eingebettet und akademisch gefordert in eine multidisziplinäre Forschungsgruppe aus Doktoranden und Habilitanden, mit unglaublichen Freiheiten durch den Doktorvater ausgestattet, gefördert und gefordert durch großes Zutrauen in meine Fähigkeiten und die richtigen Hinweise zur richtigen Zeit; und vor allem getragen von größten Respekt; menschlich ein Ort, an dem man sich ohne Angst entwickeln konnte; und auch nicht ganz unwichtig: durch Gerhards Geschick und guten Namen, schwammen wir meistens in Drittmitteln. Uns ging es richtig gut.
Wenn Gerhard mit leuchtenden Augen beim täglichen Nach-Mensa-Kaffeetrinken eine neue Idee lancierte – Kaufsucht, Ethisch-Ökologisches Rating, Wohlfahrtsindikatoren, Schenkzwang, Suffizienz, Zeitwohlstand – und so vieles mehr, dann waren wir einerseits fasziniert; andererseits waren wir auch ein wenig besorgt, wie wir schon wieder ein neues Thema auch noch unterbringen sollten. Doch Gerhard hielt sich an solchen kleinen Dingen nicht auf, er hatte eine Idee und die verfolgte er, notfalls auch alleine. Legendär die Tage, an denen er morgens früh fast unbemerkt kam, sich in sein Arbeitszimmer zurückzog und ohne einen Mucks konzentriert bis spät stundenlang an einem Manuskript arbeitete.
Überhaupt sein Arbeitszimmer: Für mich waren diese Regale vollgestopft mit Büchern immer faszinierend – und er konnte mir kein größeres Geschenk machen, als bei seinem Auszug aus dem Institut nach Wuppertal diese Regale samt Büchern zu schenken. Heute stehen diese in meinem Heimbüro in Stuttgart. Für Gerhard als gelernten Buchhändler waren Bücher immer mehr als nur Wissensspeicher, er hatte einen ästhetischen Anspruch an sie.
Gerhard legte größten Wert darauf, dass seine Texte nicht nur einem Fachpublikum, sondern auch allgemein verständlich und gut lesbar waren. Es ging ihm nicht wie heute vielen Professoren um das Maximieren von Artikeln in den führenden Zeitschriften, sondern vor allem um das Verstehen, das Durchdringen von Problemen, das Erkennen von Lösungsansätzen, um Wirkung – oder wie man heute sagt: impact – und zwar weit über seine akademischen Peers hinaus. Weil er dies sehr ernst nahm, war er ein vielgefragter Interviewpartner für die Medien.
Lucia Reisch aspricht - Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für FGEÖRWenn ich eine Publikation wählen sollte, die Gerhards Arbeiten am besten widerspiegelt, dann ist das Buchkapitel: „Das Ganze der Güter“ im Buch von Meyer-Abich „Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens: ganzheitliches Denken der Natur in Wissenschaft und Wirtschaft. (1997)“. Wie kaum sonst fasste er darin seine Kerngedanken aus Jahrzehnten zusammen – und zwar seinen eigenen Maßstäben gemäß auch literarisch-ästhetisch ansprechend und gut verständlich. Wenn man nach so etwas wie Gerhards intellektuellem Vermächtnis sucht, dann wäre es meiner Meinung nach dieses Kapitel – vielleicht in Zusammenschau mit dem späteren Beitrag unter dem Titel „Das Ganze der Arbeit“ von 2007.
Gerhard hat an der Uni Hohenheim das Fach Konsumtheorie und Verbraucherpolitik sehr erfolgreich gemacht. Es war über Jahrzehnte eines der beliebtesten Wahlfächer und hat viele Studierende begeistert und sensibilisiert. Ich habe sie nicht mehr alle zusammenbekommen, aber Gerhard hat wohl um die 20 junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler promoviert und habilitiert und uns in den Jahren enger Zusammenarbeit ganz sicher auch seine Forschungsinteressen und -perspektiven eingepflanzt: Gerd Raab ist Professor für Konsumpsychologie in Ludwigshafen, Klaus Grunert Professor in Aarhus, Suzanne Beckmann war Professorin in Kopenhagen, Heiner Imkamp und Ingrid Gottschalk blieben in Hohenheim. Ich selbst bin seit 15 Jahren ebenfalls in Kopenhagen und vertrete dort das Fach Konsumverhalten und Verbraucherpolitik. Und wie oft denke ich: Mein Gott, das haben wir damals am Lehrstuhl doch auch schon diskutiert!  Gerhard war seiner Zeit um mindestens 20 Jahre voraus. Er stieß bei Kollegen nicht immer auf Verständnis, und nicht allen passt der interdisziplinäre Ansatz, der die Ordnung der Fakultät störte. Mainstream war schon immer bequem, Abweichler sind unbequem und stören ruhige Bahnen.
Wenn ich nach einem Manko suche, dann fällt mir nur eines ein: Wie oft habe ich mir gewünscht, er hätte damals mehr auf Englisch und nicht das meiste auf Deutsch publiziert, dann könnte ich meinen oft dogmengeschichtlich völlig entspannten Studierenden die entsprechende Lektüre reichen und zeigen, dass nicht alles in den letzten fünf Jahren erfunden wurde und Gedanken auch woanders als im Internet publiziert wurden. Ich denke, dies hing aber auch mit seinem Anspruch an vollendete Sprache zusammen. Auch wenn man noch so gut Englisch spricht, sind einem Nichtmuttersprachler hier einfach Grenzen gesetzt. Ich selbst kann ein Lied davon singen.
Zurück nach Hohenheim: Leider fiel der Lehrstuhl Ende der 1990er Jahre dem so genannten Solidarpakt BW zum Opfer – Studierende sammelten Unterschriften, es gab eine Petition an den Landtag von Baden-Württemberg, aber das Fach wurde aufgeteilt und die Nachfolge anders denominiert. Einige der Lehrstuhl-Themen wurden von anderen Kollegen aufgegriffen; aber es gab nie wieder ein vergleichbares akademisches Zentrum in Forschung und Lehre für Konsumtheorie und Verbraucherpolitik an einer deutschen (und ich möchte behaupten: europäischen) Hochschule.
Gerhard schaute aber nie lange zurück – sein Blick ging immer nach vorn und zu neuen Aufgaben. Er wechselte ans damals gerade aufblühende Wuppertal Institut, wo er zu neuen Wohlstandsmodellen, nachhaltigem Konsum und Produktion forschte und schnell von dort begeistert war (so sehr, dass wir schon ein wenig eifersüchtig wurden). Aber seine Themen sind geblieben, mir und seinen Schülerinnen und Schülern: Verbraucherfragen, Wohlfahrt und Wohlbefinden, funktionsfähige Märkte, empirische Sozialforschung, die psychologischen Grundlagen wirtschaftlichen Handelns, Nachhaltigkeit, Kaufsucht, Zeitwohlstand und vieles mehr.
Gerhard hat in den gemeinsamen Jahren in uns die Neugier geweckt und unser akademisches Leben geprägt, und zwar durch Vorbild, viel Freiraum, gegenseitigem Vertrauen und inspirierendem Intellekt. Der Tod Gerhards bedeutet nicht nur, dass wir einen brillanten Vordenker und inspirierenden Wegweiser verlieren, sondern auch ein Vorbild und Rollenmodell als Vorgesetzter, akademischer Sparringspartner und Mensch. Gerhard Raab und ich haben uns entschlossen, die etwas in Vergessenheit geratene Buchreihe „Beiträge zur Verhaltensforschung“ bei Duncker & Humblot wieder aufleben zu lassen, die Gerhards Doktorvater Günter Schmölders 1959 gegründet hat und die Gerhard viele Jahrzehnte gemeinsam mit Meinholf Dierkes und Burkard Strümpel herausgegeben hat. Hier sind wichtige Meilensteine seines Faches erschienen. Wir hoffen, damit der Geschichtsvergessenheit etwas entgegenzusetzen und die Forschungstradition weiterzuführen. Denn heute sind Gerhards ursprüngliche Nischenthemen im Mainstream angekommen, hochrelevant und brisant, sowohl in der Forschung als auch in der praktischen Politik.
III.
Peter Hennicke – Gerhard Scherhorn und das Wuppertal Institut

Peter Hennicke - Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für FGEÖRDas Wuppertal Institut hat zum Tod von Gerhard Scherhorn den folgenden Text veröffentlicht:  „Nach seiner Zeit an der Universität Stuttgart-Hohenheim leitete Professor Dr. Gerhard Scherhorn von 1996 bis 2005 zunächst die Arbeitsgruppe Neue Wohlstandsmodelle und später die Abteilung Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren am Wuppertal Institut. Auch danach blieb er der Institutsarbeit eng verbunden und inspirierte viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Generationen.  Bis zuletzt leistete der ehemalige Wirtschaftsweise Gerhard Scherhorn entscheidende und wegweisende Beiträge zu einem aufgeklärten Blick auf Ökonomie und Gesellschaft in der Nachhaltigkeitsdebatte.“
Der AG Neue Wohlstandmodelle gehörte auch Uta von Winterfeld an, und sie  hat mir erlaubt,  einige  Zeilen aus ihrem persönlichen Gedenkschreiben an Gerhard hier zu zitieren:  „Dann … sollte meine Arbeitsgruppe Neue Wohlstandsmodelle am Wuppertal Institut aufgewertet werden und einen Direktor bekommen und das sollte Gerhard sein. Er fing dann tatsächlich am Wuppertal Institut an. Einst kam ich in unseren unteren Flur und er war schon da und ich sagte ‚Guten Morgen, Chef!‘ Gerhard: ‚Lassen Sie das!‘ Es kann von Gerhard nicht ausgesagt werden, dass er ein sonderlich chefiger Chef gewesen ist. Das hatte Vor- und Nachteile. Von großer Durchsetzungsfähigkeit im Machtspiel der Gremien konnte eher nicht die Rede sein. Von Unterstützung bei den von mir angestrebten inhaltlichen Abenteuern – seien sie zu „Jenseits des Wachstums“, zu Suffizienz oder zur Naturbeherrschung hingegen wohl. Da hielt er sowohl sein Schutzschild über mich als auch war er bei inhaltlichen Fragen immer wieder da und hat mein Nachdenken begleitet.“ Dieser kleine persönliche Einblick  spiegelt die respektvolle Kollegialität  und die natürliche Autorität  von Gerhard  sehr schön  wieder.  Eine Autorität, die sich gerade nicht  durch  Ränkespiele  und Fingerhakeln  ausdrückte, sondern auf der Kraft der Argumentierens und des Diskurses beruhte.
Ich habe Gerhard kennengelernt in einem Workshop am Wuppertal Institut.  Ich war tief beeindruckt von  ihm  als Persönlichkeit  und von dem was  und vor allem auch wie er es  sagte. Und dieser  Eindruck ist  über alle die Jahre geblieben, in denen wir immer wieder aufeinander trafen, vor allem während seiner Zeit am Wuppertal Institut.  Wenn ich an Gerhard denke, dann erinnere ich mich an einen feinen Menschen, im besten Sinne des Wortes. Gerhard war feinfühlig und feinsinnig. Er war leise  und gerade deshalb auf überzeugende Weise  entschieden und inspirierend.  Ich kenne keinen anderen aus meinem Kollegen- und Freundeskreis im akademischen Umfeld, für den mir diese Charakterisierung einfallen würde.
Gerhard hat akademische Kontroversen und Meinungsstreit nie mit dem Säbel ausgefochten, sondern mit dem Florett seiner elaborierten Sprache.  Für mich als Ökonomen mit einer gewissen marxistischen Grundausstattung war der Diskurs mit Gerhard zugleich eine intellektuelle Herausforderung wie eine großartige Bereicherung.  Ich will aus den Schriften von Gerhard Scherhorn während seiner Zeit am Wuppertal einige herausgreifen und zitieren. Sie zeigen

  •  seine enorme wissenschaftliche Breite,
  • seine elaborierte Sprache
  • seinen eindrucksvollen Scharfsinn,
  • seinen moralischen Rigorismus
  • seinen interdisziplinären Mut und – nicht zuletzt –
  • seinen grenzenlosen Optimismus

Lassen sie mich mit einem Zitat aus Gerhards Beitrag zum Evangelischen Soziallexikon von 2000 beginnen:
Peter Hennicke spricht (im  Vordergrund Johannes Hoffmann v.hi.) - Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für FGEÖR„Externalisierung der Umweltkosten und Vernachlässigung der immateriellen und Gemeinschaftsgüter sind gesellschaftlich bedingt, denn es ist der für die  Konsumgesellschaft konstitutive Vorrang der privaten materiellen Güter, der die Umwelt zerstört und die Wünsche produziert, zu deren Erfüllung die Güter bestimmt sind; so bringt diese Gesellschaft zwar Reichtum an privaten materiellen Gütern, aber Armut an Gemeinschafts- und immateriellen Gütern hervor. Doch in der Erkenntnis, dass die Gesamtheit der Bedürfnisse in uns angelegt ist, liegt eine subversive Kraft. Mit fortschreitender Befriedigung der elementaren Bedürfnisse verlangen die immateriellen und sozialen ihr Recht und bewirken einen Wandel der Werte, in dem das Potential zu innerem Wachstum zum Ausdruck kommt… Wieweit der Wertewandel sich gegen die Beharrungskraft der Institutionen durchsetzen kann, ist freilich eine offene Frage..“
Ich empfinde diese Passage  als einen ersten intellektuellen  Tastversuch von Gerhard Scherhorn, sich Kernthemen seines Schaffens – der Zerstörung von Gemeingütern, der  fundierten Konsumkritik  und der Begründung von transformativer Veränderbarkeit – anzunähern. Gleichzeitig  begründet Gerhard Scherhorn  mit der Ableitung seines  Verständnisses von Nachhaltigkeit die Rigorosität seines Schaffens. 
Unter der Überschrift „schwach nachhaltig wird die Erde zerstört“  (Gaia 2001) formuliert Gerhard Scherhorn sein Konzept von starker Nachhaltigkeit als Gegensatz zur kapitalistischen Verwertungslogik.  Und wie aus dem Lehrbuch für wissenschaftliche Methodik verweist Gerhard – im Gegensatz zum Ökonomen-Mainstream – auf die normativen  Grundlagen und auf die Wertorientierung seines Denken: „Das Zutun des Menschen wird man darin sehen, dass er dazu beiträgt, das Natur- und das Wirtschaftskapital zu kultivieren. Kultivieren aber bedeutet, dass wir im Mitsein mit der natürlichen und sozialen Mitwelt leben und arbeiten, dass wir die gesellschaftlichen Institutionen natur- und sozialverträglich gestalten, und dass wir beides auf die beste Art tun, die dem Menschen gegeben ist, nämlich mit Vernunft, Empathie und Ästhetik. Das hört sich normativ an? Gewiss, aber die Systeme der Wirtschaftswissenschaft sind  nun einmal auf normativen Annahmen über den Menschen und die Natur aufgebaut.“
Auf dieser Grundlage ist es nur konsequent, dass Gerhard Scherhorn Fragen der Macht in Wirtschaft und Gesellschaft nicht ausklammert, aber sie in fast salomonischer Weisheit  auszubalancieren versucht.  In seinen Buchbeitrag zu „Psychologie im Gespräch“ (2001) sagt er unter der Überschrift „Die Verhältnisse der Macht“:
„Also kann man sich nicht blind auf die Weisheit des Marktes verlassen, sondern muss kritisch und im Detail untersuchen, wie sich die jeweiligen Machtverhältnisse auf sein Ergebnis auswirken, die Machtrelationen zwischen Kapital und Arbeit, Männern und Frauen, Höher- und Geringerverdienenden, um nur einige zu nennen.  Machtblind nenne ich zum Beispiel die Vorstellung, man könne das Verhältnis von Arbeit und Kapital allein unter dem Aspekt betrachten, dass beide Produktionsfaktoren sind, die im Interesse der Güterproduktion rational kombiniert werden müssen, ohne zugleich dafür zu sorgen, dass beide in stabiler Machtbalance stehen.“
„Balance“ ist  ein Schlüsselwort, um das Schaffen von Gerhard Scherhorn zu verstehen. Dahinter steht für ihn die normative Frage „nach dem rechten Maß“, die er ebenso wie das Verständnis von Suffizienz als universelles Thema  für Konsum und Produktion versteht.  In einem Wuppertal Paper „Die Logik der Suffizienz“ (2003) sagt er: „Suffizienz bedeutet Maßhalten, von nichts zu viel wollen, damit für anderes, das man ebenfalls braucht, noch Platz bleibt. Die Logik der Suffizienz liegt deshalb in der Regel, von mehreren Zielen, die allesamt wichtig sind, keines zu maximieren, sondern für jedes das rechte Maß zu suchen, um sie in Balance zu bringen. Die Frage nach dem rechten Maß ist ein universelles Thema, weil Menschen dazu neigen, momentane Bedürfnisse den späteren vorzuziehen.“
Interessant ist auch, wie Gerhard Scherhorn  seine Kritik an der herrschenden Wirtschaftswissenschaft  formuliert und sie mit einer präzisen Analyse der Loslösung des Finanzkapitals von der Realwirtschaft verbindet. Unter dem Titel „Was bewegt sich in den Wirtschaftswissenschaften? (2003)“ schreibt er – vielleicht auch in kritischer Reflexion seiner eigenen Vergangenheit als sogenannter Wirtschaftsweiser: „Weil die reale Produktion für das unermesslich angewachsene Geldvermögen keine ausreichenden Anlage- und Ertragschancen mehr bietet, verlagern sich die Investitionen zusehends auf das Finanzkapital. Gelder steigen weit schneller als das Sozialprodukt, die weltweit umlaufende Geldmenge entfernt sich immer weiter von dem, was für die reale Produktion erforderlich ist, und so gefährdet die unkontrollierte Expansion des Finanzkapitals durch die resultierende weltwirtschaftliche Instabilität nicht nur Arbeit und Natur, sondern selbst das Sachkapital.
Für die Wirtschaftswissenschaften bedeutet das, dass ihr übersteigertes Vertrauen in das eigennützige Verhalten auf Märkten und in Organisationen eben die gesellschaftlichen Bedingungen hervorbringt, die die Indifferenz gegenüber dem Ganzen fördern, gemeinsames Handeln verhindern, den Raubbau an den Global Commons als normal erscheinen lassen und der unbegrenzten Kapitalexpansion Vorschub leisten. Doch ist Hoffnung, dass die Dominanz dieses Vertrauens gebrochen und um eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten kooperativen Handelns ergänzt wird… Erst dann wird sich in den Wirtschaftswissenschaften so viel bewegen, dass sie die Herausforderungen des nachhaltigen Wirtschaftens meistern können.“
Hoch aktuell wird es in seinem Schriften dann, wenn  Gerhard Scherhorn sich mit dem Verhältnis von Marktwirtschaft und Kapitalismus beschäftigt und seine Vision von  „Zähmung des Kapitalismus“ und  „Kultivierung des Kapitals“ entwickelt: Ich zitiere aus „Gleiche  Chancen  für das Kapital. Symposium Kapitalismus gezähmt? Pro und contra Neoliberalismus (2004)“:  „Den Massenwohlstand verdanken wir der Marktwirtschaft, der Kapitalismus hat ihn eine zeitlang vorangetrieben, heute bedroht er ihn – und er bedroht auch die Marktwirtschaft selbst. Um diese Bedrohung abzuwehren, muss der Kapitalismus gezähmt werden. Um zu wissen, wie er gezähmt werden kann, muss man die Quelle der Bedrohung kennen. Sie liegt in der Unverantwortlichkeit des Kapitals….  Eine Charta für Kapitalgesellschaften muss heute Verantwortlichkeiten ökologischer, ökonomischer und sozialer Art definieren…. In der Verwirklichung dieser drei Verantwortlichkeiten kann man die Grundlage für eine Kultivierung des Kapitals sehen, denn dadurch wird der Geburtsfehler des Kapitalismus behoben und es wird möglich, das Kapital in das Ganze der Produktivkräfte zu integrieren“.
Wer eine Kultivierung des Kapitals und das Setzen von wirksamen Leitplanken für eine sozial-ökologische Transformation für möglich hält, der muss ein gewisses Grundvertrauen in die Politik, in die handelnden Entscheidungsträger  und in die Reformierbarkeit der Strukturen haben.  In seinem Papier Die Schlüsselrolle des Sozialkapitals (2008) sagt Gerhard Scherhorn hierzu:  „Die eine Gesellschaft bestimmenden Strukturen werden von den Eliten geschaffen. Diesen obliegt daher in besonderem Maß die Sorge für die Gemeingüter. Wenn sie den Umgang mit Gemeingütern zu ihrem eigenen Vorteil regeln, verfolgen sie kurzsichtig ihre überholten Macht- und Verteilungsinteressen zu Lasten der Gesellschaft und werden blind für das Überleben ihrer eigenen Position. Nachhaltige Entwicklung hat nur dann eine Chance, wenn die Eliten dazu gebracht werden, ihre Aufgabe zu erfüllen. In einer funktionierenden Demokratie sollte das möglich sein; ist ihre besondere Chance nicht die Kontrolle der Eliten?“
Gerhard war Ausnahmepersönlichkeit und radikaler Querdenker innerhalb der Zunft der Ökonomen, aber sprachlich und konzeptionell immer um Anschlussfähigkeit mit seiner Disziplin bemüht. Er hatte eine tiefe und empirisch gut begründbare Abneigung gegen den entfesselten globalen Kapitalismus, aber er war kein Kapitalismuskritiker im Sinne einer Marx´schen Methodik und Kapitalanalyse.
Ein Schlüsselwort für  Gerhard war  dabei „Externalisierung“. Er knüpft damit sprachlich an die auch von der herrschenden Wirtschaftstheorie anerkannte Vorstellung der „Internalisierung der externen Kosten“ an. Ernst von Weizsäcker hat darauf aufbauend das geflügelte Wort geprägt „Preise müssen die ökologische Wahrheit sagen“.  Denn zweifellos würde der Kapitalismus in ökologisch und sozial verträglichere Leitplanken eingezäunt, wenn sich möglichst viele externe Kosten in den Preisen widerspiegeln würden. Aber lassen sich der rasante Verlust an Biodiversität, die immensen Schäden durch den Klimawandel oder die dauerhafte Zerstörung ganzer Lebensräume durch eine Nuklearkatastrophe jemals durch „wahre Preise“ vermeiden?
 Gerhard Scherhorn hat daher den Begriff der Externalisierung über die Sphäre von Kosten und Preisen hinaus gefasst und ihm damit auch eine neue Wucht bei seiner Systemkritik verliehen.  Damit hat die sanfte Radikalität  von Gerhard Scherhorn zur Fundierung einer  Kapitalismuskritik beigetragen, welche die Naturdimensionen nicht nur in die sozioökonomische Analyse einbezieht, sondern sie als Voraussetzung und Grundlage allen Wirtschaftens versteht.
Lassen Sie mich diese kommentierte Zitatesammlung zum Schaffen von Gerhard Scherhorn und zu  seinen Arbeiten am Wuppertal Institut mit einem besonderen Text abschließen. Dieser Text  entstand kurz vor seinem tragischen Unfall und wurde noch  nicht veröffentlicht.  In meiner Wahrnehmung ist er so etwas wie ein Vermächtnis für die Weiterentwicklung der transformativen Theorie. Der Text bezieht sich auf  eine Diskussion mit dem feministischen Externalisierungsansatz von Adelheid Biesecker und Uta v. Winterfeld aus dem Jahr 2013 und er startet mit Gerhards  Kerngedanken zur „Externalisierung“:
„Ich halte Externalisierung a) für eine notwendige Eigenschaft kapitalistischer Gesellschaften, b) für das Gegenteil von Nachhaltigkeit, und c) für überwindbar durch nachhaltige Entwicklung… Das kapitalistische Prinzip wird als Primat (Vorrang) der Kapitalakkumulation bezeichnet… Das marktwirtschaftliche Prinzip steht im Gegensatz dazu, es besteht in einem Primat des Wettbewerbs und der diesem innewohnenden Tendenz zur Eliminierung der Gewinne. Aber es konnte vom kapitalistischen Prinzip überformt werden… Um die Kapitalakkumulation immer weiter vorantreiben zu können, braucht der Kapitalismus ’stets einen Vorrat von Vermögenswerten außerhalb seiner selbst‘, die er sich aneignen kann. All das sind Formen einer ‚Einhegung der Allgemeingüter‘, an denen sich immer neu bestätigt, dass es dem Kapitalismus um ‚Akkumulation durch Aneignung‘ von Gemeingütern geht. Sie führen Marx’ ursprüngliche Akkumulation in der Gegenwart fort, und sie sind in ihrer Gesamtheit dem marktwirtschaftlichen Prinzip entgegengesetzt… Da uns das heute zusehends klarer vor Augen tritt, müssen wir über kurz oder lang einen grundlegenden Schutz der Gemeingüter einführen, indem das Eigentumsrecht, sie zu nutzen, ergänzt wird durch eine Eigentumspflicht, sie zu erhalten. Damit wird die Grundlage der Akkumulation durch Aneignung – und damit die Grundlage des Kapitalismus – entfallen… Das wird dadurch erleichtert, dass wir die Alternative zum Kapitalismus nicht mehr im Sozialismus sehen, sondern in der hautnäheren und demokratiekonformeren Nachhaltigen Entwicklung. Nachhaltigkeit besteht in der Erhaltung der Gemeingüter, vor allen anderen der naturgegebenen; das Nachhaltigkeitsprinzip besteht im Vorrang der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen; also ist Nachhaltige Entwicklung die Alternative zum Kapitalismus.“
Ich halte diesen Satz „also ist Nachhaltigkeit die Alternative zum Kapitalismus“ für die vielleicht radikalste These von Gerhard Scherhorn. Wer heute über „Große Transformation“  forscht und arbeitet  kann an dieser durch Gerhard aufgeworfenen Kernfrage nicht vorbeigehen. Sie wird bei der Analyse immer wieder vergessen und sie lautet schlicht:  Über welches Wirtschafts- und Gesellschaftsystem reden wir heute und wohin und mit welchen Mitteln soll es transformiert werden? Gerhard Scherhorn hat uns mit seinem ungeheuer facettenreichen Schaffen unzählige Anregungen gegeben, diese Grundsatzfrage weiter zu verfolgen.  Und wir werden schon deshalb den inneren Diskurs mit ihm und seinem Schaffen weiterführen.  Das Wuppertal Institut hat einen  großen Vordenker verloren.  Uns allen wird Gerhard Scherhorn fehlen.  Aber die  großartige Inspiration durch sein Schaffen wird bleiben.
 

Über den Autor:

Gerhard Hofmann

Gerhard Hofmann

Dr. Hofmann war bis 2008 TV-Redakteur, u.a. ARD-Korrespondent Südamerika und Chefreporter SWF, Chefkorrespondent n-tv und RTL. Als Chef der Agentur Zukunft, berät im Bereich der erneuerbaren Energien und Nachhaltigen Entwicklung, u.a. die Desertec Initiative Dii, das IASS Potsdam, acatech und die ...