Die Zivilgesellschaftliche Plattform Forschungswende hat unter dem Titel „Zivilgesellschaft beteiligen. Perspektiven einer integrativen Forschungs- und Innovationspolitik “ ein Working Paper veröffentlicht, das einen Einblick in die Sicht zivilgesellschaftlicher Organisationen auf Forschung und Innovation gibt. Eine Zusammenstellung der Ergebnisse aus europäischen Forschungsprojekten zu Partizipation in Forschung und Innovation ergänzen die Darstellung.
Endliche Ressourcen und der drängende Zeithorizont für eine Trendwende in der Erderwärmung erfordern innovative Forschungsansätze ebenso wie eine Beschleunigung der Umsetzung von technologischen wie sozialen Innovationen. Dies kann nur mit mehr Partizipation aller gesellschaftlichen Kräfte gelingen. Diesen Prozess zu gestalten ist eine Herausforderung, die von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft in neuen Netzwerken und auf unbekannten Pfaden gestaltet werden muss. Zivilgesellschaftliche Akteure sind hier wichtige Partner, die sich auf den (manchmal steinigen und unbequemen) Weg gemacht haben, um sich in die Diskussion über unsere gemeinsame Zukunft einzubringen.
In dem Working Paper, das im Rahmen eines BMUB/UBA Verbändeförderprojektes geschrieben wurde, stellt die Forschungswende lösungsorientierte Handlungsansätze dar, um Partizipation der zivilgesellschaftlichen Akteure wirkungsorientiert zu gestalten. Der EÖR-Blog zitiert die Zusammenfassung.
Forschungswende unterstützt nach eigener Darstellung den Aufbau einer transdisziplinären Forschungs- und Innovationspolitik mit den Zielen
– Positionen der Zivilgesellschaft zu Wissenschaft, Forschung und Innovation zu entwickeln
– Positionen der Zivilgesellschaft in Wissenschaft, Forschung und Innovation zu stärken
– Beteiligung der ZGO in Agendasetting, Programmentwicklung bis hin zu Projektdurchführung zu unterstützen
– Einen Raum für deliberative Prozesse zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik sowie Akteuren der Zivilgesellschaft zu ermöglichen
Zusammenfassung
Business as usual1 mit einer Privilegierung der Wirtschaft und technologischen Wissenschaften in der Forschungs- und Innovationspolitik (F&I)2 reichen für die Lösung der großen Herausforderungen wie Klimawandel und Ressourcenübernutzung nicht aus3.
Um der Komplexität und Dynamik der Herausforderungen zu begegnen ist ein ergebnisoffener Diskurs mit einer Pluralität von Akteuren und Positionen unerlässlich (Wissenschaftsrat 2015, 19). Ko-Design, Ko-Produktion und Ko-Kommunikation mit Akteuren der Zivilgesellschaft stärkt zudem Robustheit und Umsetzung der F&I Ansätze. Zivilgesellschaftliche Akteure bringen vielfältige Potenziale ein. Sie entwickeln Innovationen Bottom- up, intensivieren die Kommunikation zu Innovation und Forschung mit den Bürgern als Multiplikatoren, gestalten Forschungsagenden bis hin zu Programmen mit und bringen die gesellschaftlichen Bedarfe in den Diskurs ein. Darüber hinaus tragen sie mit ihrem kritischen Blick schon früh im Forschungsprozess dazu bei Potenziale und Risiken besser abzuschätzen. Sie sind ein Frühwarnsystem für Fehlentwicklungen und blinde Flecken im etablierten Diskurs zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Gerade angesichts der komplexen Entwicklungen hin zu sich wandelnden Wohlstandsmodellen und Lebensstilen wird die Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft ein wesentlicher Faktor, um auch für die Unternehmen die notwendige Investitionssicherheit für langfristige Forschungsansätze besser abzuschätzen.
Wie sich die Wissenschaft in diesem neuen, transdisziplinären Prozess wiederfindet, wird seit langem kontrovers diskutiert (vgl. Schneidewind & Brodowski 2014, Strohschneider 2015, Wissenschaftsrat 2015). Auf der anderen Seite stellt die transdisziplinäre Forschung und partizipative Forschungspolitik auch die Praxispartner aus der Zivilgesellschaft vor neue Herausforderungen. Wie die zivilgesellschaftlichen Akteure diese Anforderungen bewältigen, ist vergleichsweise wenig aufgearbeitet. Diese Lücke greift die vorliegende Untersuchung auf und überprüft mit Literaturstudien und Interviews (19 Interviewpartner) wie diesen neuen Anforderungen an die organisierte Zivilgesellschaft (ZGO) von der Praxisseite her begegnet wird. Untersucht wird, welche Hindernisse bestehen und wie die Rahmenbedingungen für eine gelingende Partizipation der ZGO verbessert werden könnten, um die geforderte Pluralität der Akteure und Interessen im Diskurs abzubilden. Zusammenfassend lässt sich aus den Interviews ableiten, dass:
- sowohl die zivilgesellschaftlichen Organisationen als auch die Strukturen des F&I Systems und die weiteren beteiligten Akteure aktuell unzureichend auf die Herausforderung einer partizipativen Governance vorbereitet sind
- die ZGOs Wissenschaft und Forschung bisher kaum als relevantes Thema ansehen. Wissen und Kapazitäten in den Organisationen fehlen in diesem Bereich weitgehend. Selbst Organisationen, die wissensbasiert arbeiten und als Auftraggeber für wissenschaftliche Expertise und Beratung agieren, sehen F&I nicht als Aufgabe der Organisation. Häufig arbeiten die Organisationen themen- und projektbezogen, so dass übergreifende Themenfelder wie F&I nicht abgebildet werden
- Widerstände im Mainstream des aktuellen Wissenschaftsbetriebes sowie Werte- und Normenkonflikte zwischen Wissenschaft und zivilgesellschaftlicher Praxis den Diskurs erschweren4
- Misstrauen in das etablierte F&I System, die Angst manipuliert und zur Akzeptanzbeschaffung missbraucht zu werden, aktuell zu beobachten ist. Vertrauen wird seitens der ZGO als entscheidender Schlüsselbegriff für mehr Engagement in der F&I Politik beschrieben. Vertrauen darauf, dass die Informationen transparent und ausgewogen auch Risiken und Nicht-Wissen transportieren. Vertrauen darin, dass ihr Engagement und Ressourceneinsatz gewürdigt wird und nicht folgenlos bleibt. Hier gibt es Kritik an den etablierten Institutionen5
Unterstützend für das Engagement der Akteure der Zivilgesellschaft wirken:
- Räume und Formate, die einen Austausch und gemeinsames Lernen zwischen ZGO und Wissenschaft ermöglichen (Schnittstellen)
- Leitlinien für eine gelungene Partizipation, die den Aufbau von Vertrauen zwischen den Organisationen und Akteuren aus Politik und Wissenschaft befördern
Erforderlich sind daher neue Ansätze in der Prozessgestaltung und Koordination. Nur mit einer besseren fachlichen und personellen Grundlage in den Organisationen können ZGO ihre Rolle auf Augenhöhe in Wissenschaft und Forschung wahrnehmen. Zusätzlich muss die Expertise der Akteure der Zivilgesellschaft als relevanter Lösungsbeitrag für gesellschaftliche Probleme in Wissenschaft und Politik systematisch verankert werden.
Eine Koordinationsstelle, wie sie mit dem Projekt Forschungswende aufgebaut wurde, unterstützt den Transfer von Wissen innerhalb der Zivilgesellschaft und in Wissenschaft und Forschung. Hier wurde ein Prozess angestoßen, um auf dieser Plattform entlang der Hightech-Strategie die drängenden Zukunftsfragen wie Energie, Mobilität, Bioökonomie, alternde Gesellschaft sowie Gesundheit gemeinsam zu diskutieren und in einen breiteren Kreis über die vielfältigen Verbände zu multiplizieren. Aus den Untersuchungen zu Gelingensfaktoren von Partizipation, die im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogrammes erstellt wurden liegen klare Empfehlungen vor. Als Best practise wird die Unterstützung einer stärkeren Netzwerk- und einer gezielten Schnittstellenbildung herausgestellt. Dies stimmt mit unseren Ergebnissen überein. Als Hürde wird angeführt, dass Netzwerke und Schnittstellen sowie der Aufbau von Kapazitäten in den Organisationen personelle und finanzielle Ressourcen benötigen, die zugleich ein gewinnbringendes Investment für die Allgemeinheit darstellen könnten.6
Unterschiedliche Wissensformen einzubeziehen stärkt die Robustheit wissenschaftliche Politikberatung und erhöht Akzeptanz und Legitimation von Förderstrukturen. Eine bessere Integration der Akteure der Zivilgesellschaft wird unterstützt durch:
- Den Aufbau einer Koordinationsstelle mit und für die organisierte Zivilgesellschaft die den Prozess strukturiert, die Netzwerke koordiniert sowie Weiterbildung (Trainings und Handbücher) organisiert, damit die ZGO aktiv in der Forschungspolitik Verantwortung übernehmen können.
- Die Verminderung der strukturellen Nachteile für die ZGO: die Förderung des Allgemeinwohls (benefit for society) und gesellschaftlicher Impact sollte als Förderziel aufgenommen werden.
- Einführung von zusätzlichen Projektförderlinien (Verbändeförderung): Diese wirken als Anschubinvestition unterstützend, damit Wissen und Engagement in den Organisationen der zivilgesellschaftlichen Akteure angeregt wird. Das Ziel ist der Ausbau von selbsttragenden Strukturen innerhalb der ZGO: Offensive Kommunikation zu Forschung & Innovation an ihre Mitgliedern und Zielgruppen sowie Aufbau von Kapazitäten und Ressourcen sind grundlegende Voraussetzungen für eine wirksame Beteiligung in F&I.
- F&I Co-Lab Bioökonomie: Erweiternd wird der Aufbau eines selbstorganisierten Kooperationsraumes vorgeschlagen, in dem eine gelungene Prozessgestaltung mit unterschiedlichen Stakeholdern prototypisch und iterativ entwickelt werden kann. Diese modellhafte Schnittstelle (F&I Co-Lab) mit Fokus auf den Bereich Bioökonomie ermöglicht die Erprobung einer transdisziplinären Integration der Wissensformen, die Diskussion von Forschungslücken und Schwachstellen und deren Weiterentwickelung. Der Umgang mit Wert- und Zielkonflikten sowie Lösungsansätzen für eine partizipative Governancestruktur in der Bioökonomie kann hier in einem besonders ausgeprägten Konfliktfeld (Biotechnologie) mit Vertretern aller Beteiligungsgruppen getestet werden. Zudem werden praktische Erfahrungen gesammelt, die für das konstruktive Einbinden der ZGO Expertise in anderen F&I Bereichen einen Mehrwert darstellen.
Angesichts endlicher Ressourcen ist die Zivilgesellschaft gefordert, an der Priorisierung von Forschungsfragen teilzunehmen, die gefundenen Kompromisse und Ansätze immer wieder neu zu überprüfen sowie Verantwortung für die Umsetzung zu übernehmen.
Diesen Prozess zu ermöglichen und zu unterstützen, stellt neue Anforderungen an die Politik. Der Ansatz eines transsektoralen Lernprozesses ausgehend von den zivilgesellschaftlichen Akteuren mit Themenclustern, Expertise und Formaten trägt zu dieser erwünschten verbindlichen Beteiligungskultur für eine nachhaltige, gesellschaftliche Transformation bei.
1 Business as Usual: ein Szenario für weiter wie bisher siehe z.B. Der Pfad zur Klimakatastrophe WBGU 2014, 18
2 Zudem haben sie in den letzten Jahrzehnten z.T. massiven gesellschaftlichen Widerstand ausgelöst so wie es bei der Nutzung der Agro-Gentechnik, der Nuklearforschung oder auch bei technologischen Großprojekten wie Stuttgart 21 der Fall war.
3 Def: Institutionen sind Regeln und Mechanismen, die das menschliche Miteinander organisieren, wobei zwischen informellen und formalen Institutionen unterschieden wird. Eine wichtige Ausprägung formaler Institutionen sind etwa Gesetze. Schneidewind 2013 (Transformative Literacy)
4 vgl. Wehling 2013 zur uneingeladenen Partizipation, Strohschneider 2014
5 Weiger et al. 2015, 3
6 Investitionen in den Aufbau von Kapazitäten und Diskursräumen sind volkswirtschaftlich gesehen sinnvolle Kosten, da sie dazu beitragen, sowohl gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen als auch ungeeignete, teure Lösungsansätze zu vermeiden.
->Quelle: forschungswende.de