Am 9. Mai veröffentlichte unser Kollege Dr. Christopher Gohl, der derzeit wegen seines Bundestagsmandates am Weltethos-Institut beurlaubt ist, einen offenen Brief an OB Boris Palmer.
Wir veröffentlichen den Brief auf unserem Blog, weil aus unserer Sicht die darin geübte Kritik inhaltlich und methodisch einen wertvollen Beitrag zu einer weltethischen Debattenkultur leistet.
Lieber Boris,
wir müssen reden: Du der grüne Oberbürgermeister, ich der FDP-Bundestagsabgeordnete aus Tübingen. Wir teilen viel, zum Beispiel eine von den Nazis gestörte Familiengeschichte, persönliche Wertschätzung füreinander, die Abneigung gegen Cancel Culture, die Sorge um die liberale Demokratie und die Suche nach Inspiration bei Hans Küng, dem Tübinger Ehrenbürger und weltöffentlichen Intellektuellen.
Gerade deshalb frage ich mich wieder einmal, warum Du schon wieder einen völlig sinnlosen und kontraproduktiven Skandal provoziert hast. Das Muster ist immer gleich: Du haust einen starken Spruch raus, gerne mal mit Bezug auf „auffällige Flüchtlinge“, die Kinderstube von Asylbewerbern oder die Angemessenheit bunt-urbaner Werbung als Spiegel der Gesellschaft. Grund genug für Irritation schon bei mir in der liberalen Mitte – aber links gibt’s dann einen Aufschrei.
Schon steht die Schlachtformation: Du hier als missverstandener Faktenfreund, als Held von Volkes Stimme, als brutalst möglich aufklärender Oberbürgermeister des gesunden Menschenverstandes gegen die unzulässig moralisierenden linksliberalen Eliten, gegen die linke Sprachpolizei, gegen beleidigte Cancel Culture und Identitätspolitik. Und Deine Gegner dort reinen Gewissens im Kampf gegen die Verletzung der Sprache der Achtsamkeit, die Du als zu entlarvender rassistischer Provokateur beschmutzt. Beide Seiten standfest, mit Beifall. Zeit also für Talkshows, bis die nächste Sau durch’s Dorf getrieben wird.
Was gewinnen wir dabei? Ich glaube: Nichts, im Gegenteil. Denn drillst und drückst Du nicht selbst die Spirale der Polarisierung immer weiter in das tragende Fundament unserer liberalen Demokratie? Fachst Du nicht selbst die Dynamiken der politischen Korrektheit, der Cancel Culture und Identitätspolitik an? Müssen die, denen es wirklich um die Offenheit und Liberalität im Lande geht, nicht eigentlich ausbrechen aus dieser Polarisierung?
Das immerhin klingt am Schluss Deiner Rede vor dem Parteitag der Grünen gestern an: „Ich würde mich freuen, wenn wir wieder versuchen könnten, uns zu verstehen, statt vorschnell zu verurteilen.“ Dieses Anliegen will ich gerne verstärken. Versuchen wir es also gerne mit „erst die Fakten, dann die Moral“, wie eines Deiner Bücher heißt.
Ich nehme als gegeben an, dass Du Dir aus einem nicht überprüften Vorwurf aus obskurer Quelle eine wahre Trophäe des sexistisch aufgeladenen Rassismus geangelt hast; vermutlich gar nicht kalkuliert, sondern aus dem Affekt der Situation heraus; womit Du als machtvoller Streiter dann diesem widerlichen Vorurteil einen Sprung in die Mitte der Öffentlichkeit verschafft hast.
Weißt Du denn nicht, dass viele Betroffene das genannte Zerrbild als real existierende rassistische Herabsetzung kennen? Die schmerzt das raunende Echo Deines Zitats auch dann noch, wenn all Deine lockere satirische Absicht längst verflogen ist. Nicht alle, die gegen einen allzu fliegenden Rollenwechsel vom seriösen Oberbürgermeister zum scharfzüngigen Satiriker Boris Böhmermann Einspruch erheben, sind dann gleich „Denunzianten“ mit dem Willen zur „Existenzvernichtung“, die als „Generation Beleidigt“ (Caroline Fouret) die Sprachpolizei zur Gedankenpolizei machen wollen.
Apropos Fakten: Wir wissen doch schon als Väter, dass Sprache und Sprachspiele natürlich Selbstbilder und Weltbewusstsein prägen. Was und wie wir etwas sagen, hat Wirkung – darum geht es ja der Disziplin der Rhetorik, die Walter Jens in Tübingen so prominent vertreten hat. Für mich als liberalem Verantwortungsethiker ist das Anliegen, die Wirkung der eigenen Worte zu verantworten, das ursprüngliche und ehrenwerte Anliegen politischer Korrektheit: Wir sollten uns öffentlich um eine inklusive, nicht verletzende Sprache bemühen. Richtig so. Gelingt Dir gegenüber Akademikerinnen und Akademikern in Tübingen häufig ja mühelos.
Aber wenn Du Kritiker der „Generation Beleidigt“ mit Sahra Wagenknecht pauschal als „selbstgerechte Lifestyle-Linke“ abstempelst, bedienst Du dann nicht selbst den „Furor einer entfesselten Identitätspolitik“? Das Bild der duldsam schweigenden Mehrheit hier gegen die elitär moralisierende Minderheit da? Bist Du denn nicht selbst ein Mensch mit ziemlich ausgeprägten moralischen Gefühlen, zu denen Gerechtigkeitssinn und Empörung über Unterdrückung gehören?
Apropos Fakten: Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt untermauert auf einer soliden empirischen Basis die Thesen von Hume, Freud und Nietzsche, dass sich die menschliche Vernunft sozusagen nur als Pressesprecher der eigenen Intuitionen entwickelt habe, eine relativ späte Frucht der Evolution, ein schwacher Reiter auf dem starken Elefanten der durchbrechenden Gefühle. Haidts Forschung zeigt, dass gerade besonders gescheite Leute wie Du Kandidaten der nachträglichen Rationalisierung intuitiv längst getroffener Entscheidungen sind. Besonders raffinierte Moralisten also.
Wie kommen wir da raus? Ich glaube, dass es die die liberale Demokratie weiter bringt, folgende sieben Thesen zu diskutieren.
Erstens: Für Faktenliebhaber ist es an der Zeit zu prüfen, ob „erst die Fakten, dann die Moral“ nicht eine Lebenslüge ist, weil die Wucht moralischer Gefühle selbst zu den Fakten der Evolution von Menschen als Gruppentieren zählt. Sind nicht die größten Kritiker der Moralisierung oft selbst die größten Moralisten? Und hatte Hans Küng nicht recht damit, auf die Bedeutung hinzuweisen, die moralische Haltungen für die Wahrnehmung von Fakten haben?
Zweitens: Gerade die Wucht, mit der Gefühle ein dominanter Modus der Erkenntnis sind, macht den öffentlichen Gebrauch von Vernunft zu einer entscheidenden zivilisatorischen Errungenschaft. Das ist doch eine entscheidende Pointe des Weltethos-Projekts Hans Küngs: Dialogfähigkeit als Produkt der Werte, die sich in allen Religionen und Kulturen über alle Zeiten hinweg immer wieder im menschlichen Miteinander bewährt haben. Die Essenz des Küng’schen Ethos ist es, Menschen menschlich zu behandeln, indem wir mit der Goldenen Regel einen Perspektivwechsel vornehmen und dabei nach Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Partnerschaft streben. Bundespräsident Steinmeier hat den durch diese Werte gebundenen Freiheitsgebrauch in seiner Weltethos-Rede 2019 mit Jürgen Habermas „vernünftige Freiheit“ genannt.
Drittens: Wir können uns deshalb nicht mit dem halben Ralf Dahrendorf zufrieden zu geben, der gerade in seiner Tübinger Zeit in den 1960iger Jahren Konflikte als Motoren der demokratischen Veränderung gewürdigt hat. Klar: Ohne Widerspruch kein Fortschritt. Aber Konflikte waren eben nur eines von zwei elliptischen Zentren seines Denkens. Denn Konflikte waren für ihn Treiber des Fortschritts menschlicher Lebenschancen – das zweite Zentrum seines Denkens. Liberale Demokratie ist also die stete öffentliche Verständigung darüber, wie wir die bestehenden Verhältnisse verändern können, um bessere Lebenschancen für mehr Menschen zu schaffen.
Viertens: Weisen wir deshalb den identitätspolitischen Anspruch entschieden zurück, angeblich klar definierbare und unveränderliche Identitäten ohne Rückfragen wertschätzen zu müssen – aber ersetzen wir diesen Anspruch zugleich mit einer echten Neugier auf Erfahrungen, die unterschiedliche Menschen mit den Lotterie-Tickets ihrer Geburt und Sozialisation machen. Denn dann verstehen wir die bestehenden Verhältnisse besser. Du hast ja selbst von den Erfahrungen gesprochen, die Deine Familie geprägt haben. Gut so. Aber dann musst Du eben auch die Erfahrungen ernst nehmen, die Minderheiten am Rand der Gesellschaft machen, nicht nur in der Mitte der Gesellschaft. Erfahrungen auch und gerade mit öffentlicher Sprache und Abbildern.
Fünftens: Nicht jeder muss inklusiv sprechen, aber wir Politiker schon. Eine liberale Republik ist ein partnerschaftliches Spiel mit verteilten Rollen. Als Oberbürgermeister verkörperst Du die Einheit einer vielfältigen Stadtgesellschaft. Als liberaler Abgeordneter bin ich der gesamten Gesellschaft verpflichtet. Ich verstehe uns Demokraten in Verantwortung als Brückenbauer, nicht als Spalter. Wir leben Dialogfähigkeit vor, inklusive Gelassenheit und Akzeptanz der Menschen, wie sie sind. Das heißt, dass wir Leute einerseits vor dem Generalverdacht in Schutz zu nehmen, sie seien notwendig Rassisten, wenn sie die neuesten Sprachideen aus kritischen Seminaren nicht kennen. Aber andererseits müssen wir auch von ihnen Interesse an den Erfahrungen anderer erwarten.
Sechstens: Demokratie ist ein Lernprozess. Freiheitsrechte sind der „Fußboden“ (Dahrendorf) für die freiheitlich-demokratischen Such- und Lernprozesse, mit denen Betroffene am Fortschritt der Lebenschancen beteiligt werden. Aber diese Prozesse von Versuch und Irrtum, Kritik und Korrektur gelingen doch nur in einer Kultur der Lernbereitschaft. Der Tübinger Weg durch die Corona-Krise ist für mich aktuell das schönste Beispiel dafür. Da hilft es, Fehler auch mal zuzugeben. Und sie auch, das wünsche ich Dir und den Grünen, verzeihen zu können.
Siebtens, in Summe: Wer das Feuer der Identitätspolitik nur mit dem Feuer der Verdammung bekämpft, hinterlässt überall verbrannte Erde. Ich glaube, wenn wir die Dynamik der Cancel Culture-Kriege überwinden wollen, müssen wir uns ihrer Logik entziehen, statt die Flammen anzufachen. Du kannst mit grünen Stiften kein blaues Bild malen, weil die Mittel nun mal den Zweck prägen. Dialogfähigkeit verlangt von uns mehr als nur Standpunktfähigkeit, Verteidigung und Mut zum Widerstand – nämlich Neugier, Lern- und Veränderungsbereitschaft. Auch wohlwollende Beobachter erkennen Letzteres bei Dir zu selten. Bei zu vielen Deiner Kritikerinnen und Kritiker freilich auch.
Möge sich das ändern.
Ich bin gespannt auf Deinen Widerspruch.“
Text und Bild: Dr. Christopher Gohl