An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

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Studium Generale eröffnet: Wie Bedrohung Normalitäten verändert

Mit seiner Vorlesung zum Thema „Bedrohte Ordnungen im beschleunigten Wandel: Wie entstehen neue Normalitäten?“ hat der Historiker Prof. Dr. Ewald Frie am Dienstag Abend, den 22. April die Vorlesungsreihe des Weltethos-Institut im Studium Generale „Umbrüche, Aufbrüche: Wie entstehen neue Normalitäten?“ eröffnet.

Einleitend warf Gastgeber Dr. Christopher Gohl vom Weltethos-Institut die Frage auf, wie neue Normalitäten entstehen, wenn vertraute und wünschenswerte Gewohnheiten durch Umbrüche wie Klimawandel, demografische Veränderungen, Digitalisierung, Pandemie und Krieg in Frage gestellt werden. Normalität sei als mehr als ein statistischer Durchschnitt oder die soziale Mehrheitsmeinung: Sie umfasse selbstverständliche, vertraute und wünschenswerte Gewohnheiten, die Orientierung, Koordination und Stabilität ermöglichten. Der Verlust solcher Normalitäten führe zu Desorientierung, Fragmentierung und Konflikten. Die Frage sei dann, wie neue Normalitäten – neue selbstverständliche, vertraute und wünschenswerte Gewohnheiten – entstünden und wer sie bestimme.

Diesen Fragen wolle die Vorlesungsreihe nachgehen, und niemand könne sie besser eröffnen als ein Historiker mit der Tiefenkenntnis historischer Veränderung – so wie der Historiker Prof. Dr. Ewald Frie, der langjährige Sprecher des zwischen 2011 und 2023 bestehenden interdisziplinären Sonderforschungsbereich zu Bedrohten Ordnungen an der Universität Tübingen.

Prof. Frie stellte zunächst Grundannahmen des Forschungsprojekts vor. Er beschrieb eine Bedrohung als eine Art produktiven Ausnahmezustand, der soziale und emotionale Energien freisetze und bestehende Routinen und Erwartungen erschüttere. Bedrohungssituationen seien geprägt von bestimmten Phänomenen wie eine neue, intensive, oft dringliche Wahrnehmung von Wirklichkeit („Hyperrealität“), von Emotionalität und emotionalisierenden Ereignissen, von einer Auszeit geltender Selbstverständlichkeiten und einer veränderten Zeitwahrnehmung. Frie betonte, dass die Definitionsmacht über Bedrohungen und Zeit ein Machtinstrument sei. Mache habe, wer Bedrohungen definiere und damit Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen ausübe. Erfolg habe, wer Bedrohungen auflösen könne.

Im Zusammenspiel von Diagnose und Bewältigungspraxis, sozialer Mobilisierung und Reflexion über Fragen von Identität und typischen Praktiken komme es einem Re-Ordering, einer Neukonfiguration von Ordnungen. Ereignisse wie die Corona-Pandemie oder die Kölner Silvesternacht 2015/16 wurden als Beispiele für Umschlagpunkte öffentlicher Wahrnehmung von Wirklichkeit genannt.

Zur Hoffnung des Forschungsprojekts habe es gehört, dass das Verständnis dieser Dynamiken helfen können, sich selbst und gesellschaftliche Prozesse in und nach Krisen besser zu verstehen und zu beobachten. Wer sich und andere besser verstehe, können auch besser verzeihen, dass und wie Menschen in Bedrohungssituationen durch besondere Dynamiken geprägt würden, die später mitunter schwer zu verstehen sein. Zum Abschluss seines Vortrages würdigte Frie die liberale Demokratie als Rahmen, in dem Argumente und Fakten konkurrieren könnten, Wissenschaft geachtet werde und unterschiedliche Gerechtigkeitserwägungen artikuliert werden dürfen. Auf diese Weise können die emotionalen Echokammern von Bedrohung überwunden und gemeinsam Zukunft gestaltet werden.

Der Vortrag mündete in eine halbstündige Diskussion der 70 Teilnehmende mit dem Dozenten. Dabei ging es um Erfahrungen der Klimakrise, Corona und Krieg, aber auch um verwandte Konzeptionen des Ausnahmezustandes nach Carl Schmitt. Die letzten Teilnehmer verließen den Saal erst gegen 22 Uhr.

Take-Aways und wichtige Konzepte

  • Eröffnung der Vorlesungsreihe: Auftakt mit Ewald Fri zum Thema bedrohte Ordnungen und neue Normalitäten.
  • Forschungsprojekt: 12-jähriger Sonderforschungsbereich zu bedrohten Ordnungen in Tübingen.
  • Normalität: Mehr als Durchschnitt; umfasst vertraute, wünschenswerte Praktiken, die Orientierung und Stabilität bieten.
  • Bedrohung: Ausnahmezustand, der Routinen und Erwartungen erschüttert und soziale sowie emotionale Energien freisetzt.
  • Modell: Diagnose, Praxis, Mobilisierung und Reflexion als zentrale Elemente der Neuordnung.
  • Dynamiken: Revolutionäre Dynamiken, Hyperrealität, Ordnungsauszeiten, emotionale Ereignisse, verändertes Zeitverständnis.
  • Definitionsmacht: Wer Bedrohungen und Zeiten definiert, übt Macht aus.
  • Lernprozess: Verständnis der Dynamiken ermöglicht bessere Selbstbeobachtung und gesellschaftliches Lernen.
  • Liberale Demokratie: Gewährleistet Raum für Argumente, Wissenschaft und Gerechtigkeitserwägungen, um Bedrohungssituationen zu bewältigen.