An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

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Europas Demokratien im Stresstest: Weltethos als Antwort? 

Ein Kommentar von Dr. Christopher Gohl, Politikwissenschaftler und Koordinator der Lehre am Weltethos-Institut.

Im Jahre 2022 finden sich liberale Demokratien im dreifachen Stresstest: polarisiert von innen, bedroht durch Systemfeinde von außen, herausgefordert durch Megatrends wie den Wandel von Klima und Demographie. Kein Zweifel: Wir leben, in den Worten von Bundespräsident Steinmeier, in „Bewährungsjahren für unsere Demokratie“. Ihre Feinde werden extremer, die Krisen und Herausforderungen größer, das Misstrauen tiefer, der Zusammenhalt geringer, der Ton schriller.  

Erstens bedroht zunehmende Polarisierung von innen die Stärke liberaler Demokratien: Ihre öffentliche Dialog- und Lernfähigkeit. Dazu tragen Soziale Medien mit Geschäftsmodellen bei, die Emotionalisierung, Gruppen- und Schwarzweißdenken befördern. Aber sie brauchen eben auch Menschen, die diese Polarisierung mitgehen wollen. Zwar sind links- und rechtsextreme Parteien bei den letzten Bundestagswahlen kleiner geworden. Aber in welchem Maße die Extreme von links und rechts das vernünftige Maß der demokratischen Mitte bedrängen und verachten, wird in den Reaktionen auf den Angriffskrieg des Autokraten Vladimir Putin auf die Ukraine deutlich.  

Zweitens stehen wir im Systemwettbewerb mit autoritären Staaten wie China und natürlich Russland, das uns jetzt konkret bedroht. Das muss in diesen Tagen wenig vertieft werden: Solche Staaten haben Angst davor, dass liberale Demokratien Wohlstand in Frieden und Freiheit und ganz ohne starke Männer oder Einheitsparteien gewährleisten. Denn das stellt die Legitimität ihres Herrschafts- und Geschäftsmodell in Frage.

Dritte Herausforderung: Wir müssen Frieden, Freiheit und Wohlstand auch in Zukunft unter einen Hut bringen. Der Wandel von Klima, Demographie und Digitalisierung bringt gewaltige Umbrüche und neue Verteilungskämpfe mit sich, bei denen das Potenzial zur Polarisierung groß bleibt – siehe oben. 

Womit wir wieder bei Bundespräsident Steinmeier wären. Nach seiner Wiederwahl durch die Bundesversammlung am 13. Februar 2022 in Berlin stellte er die Stärkung der Demokratie ins Zentrum seiner bisher größten und wichtigsten Rede. Sie ist dringend nachlesenswert, nicht nur für Erinnerungen wie diese „Vertrauen in Demokratie ist doch am Ende nichts anderes als Vertrauen in uns selbst. (…) Das ist die doppelte Natur der Demokratie: Sie ist Versprechen und Erwartung zugleich.“ Sondern auch, weil Steinmeier mahnt, die dringlichen Umbrüche der kommenden Transformation hin zu einer nachhaltigen Lebensweise müssten Aufbrüche für uns alle werden. Und dafür müssten wir Brücken bauen: „Brücken bauen zwischen den Generationen; zwischen den Alteingesessenen und denen, die neu hinzukommen; Brücken zwischen Start-up und Hochofen; zwischen Großstadt und plattem Land; zwischen den Gesprächen in der Kneipe und denen in Brüssel und Berlin.“

Welche Haltung, welches Verständnis von Demokratie dafür erforderlich ist, hatte Steinmeier schon im Oktober 2019 in seiner großen Weltethos-Rede in Tübingen beschrieben:  

„Normative Verständigung heißt also beides: eine stetige Arbeit an der Friedensfähigkeit unserer wechselseitigen internationalen Beziehungen und in eins damit am inneren Frieden unserer eigenen Gesellschaften. Darüber denken wir heute hier in Tübingen nach. Der Genius Loci Tübingens war oft und immer wieder vom Geist des Gesprächs, der gelehrten Disputation, der friedlichen Auseinandersetzung großer Geister geprägt. Die berühmte Trias der Stiftsstudenten Hölderlin, Schelling, Hegel steht dafür beispielhaft. Einer von ihnen, Friedrich Hölderlin, hat einige der wunderbarsten Gedichte deutscher Sprache geschrieben, bevor er die zweite Hälfte seines Lebens in sogenannter geistiger Umnachtung hier in Tübingen verbrachte. In seinem Gedicht ‚Friedensfeier‘ gibt es die Zeile: ‚Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, […].‘“ 

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in seiner Weltethos-Rede 2019

Damit würdigt Steinmeier die Stadt Tübingen als Stadt des Gesprächs, und damit kommt Steinmeier zum Weltethos. So wie es Orte gäbe, die für die Idee unserer Demokratie eine paradigmatische Bedeutung hätten, „so gibt es auch besondere Orte eines Denkens, das sich der Welt zuwendet. Das akademische Leben von Hans Küng ist ohne Tübingen nicht zu denken“. Er fährt fort: 

„‘Seit ein Gespräch wir sind‘: Das scheint mir ein angemessener und auch eindrücklicher Leitgedanke für die Möglichkeit und Wirklichkeit eines Weltethos zu sein. ‚Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander‘: So wird eine zivile, friedliebende Art der Auseinandersetzung in sehr nobler und zurückhaltender Weise ausgedrückt, ein Gespräch in ‚vernünftiger Freiheit‘, wie Jürgen Habermas das nennt. Ein Gespräch zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft, Überzeugung und Einstellung. (…) Wirkliche Begegnung verändert die, die sich begegnen, und diese Veränderung bringt die Möglichkeit wirklicher Gemeinsamkeit. Ein gemeinsames Ethos, das unserem Zusammenleben in unserer eigenen Gesellschaft, aber eben auch weltweit zugrunde liegen soll, ermöglicht und braucht genau solches Gespräch und Hören voneinander.“ 

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in seiner Weltethos-Rede 2019

Hier wird Ethos zur persönlichen Haltung der Gesprächsfähigkeit: ein politisches, demokratisches Ethos „vernünftiger Freiheit“. Gerade die Wucht, mit der Gefühle ein dominanter Modus der Erkenntnis sind, macht den öffentlichen Gebrauch von Vernunft zu einer entscheidenden zivilisatorischen Errungenschaft. Das ist doch eine entscheidende Pointe des Weltethos-Projekts Hans Küngs: Dialogfähigkeit als Produkt der Werte, die sich in allen Religionen und Kulturen über alle Zeiten hinweg immer wieder im menschlichen Miteinander bewährt haben. Die Essenz des Küng’schen Ethos ist es, Menschen menschlich zu behandeln, indem wir mit der Goldenen Regel einen Perspektivwechsel vornehmen und dabei nach Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Partnerschaft streben. 

Wer Weltethos-Werte praktiziert, ist dialogfähig: Behandelt andere gewaltfrei, menschlich, als gleichberechtige GesprächspartnerInnen, sucht in fairen, partnerschaftlichen und offenen Prozessen nach gemeinsamen wahrhaftigen Lösungen. Schon in seinem Buch „Projekt Weltethos“ von 1990, dem Gründungsdokument des Projektes, hob Hans Küng Dialogfähigkeit mit einem eigenen Kapitel hervor. In seiner Konzeption verbindet sie Standpunktfähigkeit hier – wissen, wer man ist und was die eigenen Gewissheiten sind – mit Neugier und Lernbereitschaft dort: Offen zu bleiben für andere, für gemeinsame Such- und Lernprozesse. „Dialogfähigkeit ist Friedensfähigkeit“, so Küng. 

Wir haben in den Forschungen am Weltethos-Institut einen Zwischenschritt eingebaut: Dialogfähigkeit heißt Lernfähigkeit – sie ist, in den Worten von Institutsdirektor Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel, ein „Lernprogramm des pluralitätsfähigen Identitätslernens“. Lernfähigkeit heißt, aus der Erfahrung von Erfolgen und Fehlern das Wissen abzuleiten, wie wir uns besser verhalten sollten. Sie führt uns zu neuem, von alten Problemen befreienden Wissen und wird so zum friedlichen Treiber für Entwicklungen, Anpassungen und Synthesen. Diese offene Verständigung über notwendige, mögliche und wünschenswerte Veränderung – sie macht Dialogfähigkeit zur Friedensfähigkeit. Der Quellcode einer zur Transformation fähigen Demokratie ist die Dialogfähigkeit.  

So wird Haltung zur Handlung, Ethos zum Projekt der Sorge um unsere gemeinsame Demokratie. Weltethos sei deshalb eine Idee „von unerhörter historischer Dringlichkeit“, so Bundespräsident Steinmeier in Tübingen. Es stecke im Weltethos, „ein kategorischer Imperativ, der die Menschen guten Willens, der uns alle verpflichtet. Und zwar zur beharrlichen, auch beschwerlichen, zur zielgerichteten, wenn auch oft kleinteiligen Arbeit an Verständigung und Frieden. Im Lösen der verwickeltsten Knoten. Im Hören aufeinander. Im geduldigen Gespräch.“ Genauer:  

„Gespräch hat immer mit Geduld zu tun, zumindest wenn es wirklich um Verstehen und Verständigung geht. Das gilt, wie gesagt, innerstaatlich; das gilt erst recht im außenpolitischen Bereich, in der Diplomatie; das gilt in Vertragsverhandlungen, im vorsichtigen, respektvollen, unbeirrbar lösungsorientierten Dialog. (…) Wie oft musste ich da an jenes fromme Bild denken, in der Kunstgeschichte einmalig, das man in Augsburg findet: ein Bild von der Himmelskönigin Maria als Knotenlöserin. In der Hand hält sie ein verwickeltes Fadenknäuel, einen Knoten, aus dem sie mit unendlicher, man könnte sagen: himmlischer Geduld die Fäden aus dem scheinbar unentwirrbaren Knoten löst. Besteht nicht politisches Ethos verantwortlich handelnder Politiker im bescheidenen, unbeirrbaren, geduldigen Knotenlösen? Knotenlösen begreife ich als ethisches Prinzip politischen Engagements gerade heute. (…)  

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in seiner Weltethos-Rede 2019

Kann unsere Demokratie mit ihren Aufgaben wachsen? Oder gibt sie im Stresstest der vielfältigen Umbrüche und Angriffe ihren Geist auf? Ich glaube, wir haben begründeten Anlass zum Optimismus – wenn wir uns denn die Erneuerung der Demokratie vornehmen. Dafür gibt es viele Vorschläge, für die hier nicht der Ort ist. Aber eine als Herrschaftsform verteidigte, als Regierungsform viel besser organisierte und als Lebensform vertiefte „lernende Demokratie“ ermöglicht uns, die Zukunft in Vernunft und Verantwortung mit einander und füreinander zu gestalten. Wo wir Probleme nachhaltig lösen können, rechtfertigen wir Vertrauen in die demokratischen Wege des friedlichen Ausgleichs. Damit können wir Polarisierungen dämpfen, im Systemwettbewerb bestehen und die Herausforderungen unserer Zeit friedlich verarbeiten. 

So wie die Soziale Marktwirtschaft als dritter Weg zwischen unreguliertem Kapitalismus und planwirtschaftlichem Sozialismus entstanden ist, wäre die lernende Demokratie ein dritter Weg zwischen smarter technokratischer Elitenherrschaft und autoritär-populistischer Massenverdummung. Wie der faire Wettbewerb in der Sozialen Marktwirtschaft wäre der offene Dialog eine Form des zivilen, produktiven und gemeinsamen Freiheitsvollzugs. Am Ende gibt es keine Friedensfähigkeit ohne Dialogfähigkeit, keine Dialogfähigkeit ohne Lernfähigkeit – und keine Lernfähigkeit ohne die Werte im Zentrum des Weltethos-Projekts! 

Über den Autor:

Dr. Christopher Gohl

Dr. Christopher Gohl

Dr. Gohl forscht und lehrt seit 2012 am Weltethos-Institut an der Uni Tübingen zur Entstehung und Wirkung von Werten, zur Ethik in Unternehmen und Wirtschaft und zur lernenden Demokratie. 2021 war er für die FDP Abgeordneter im Deutschen Bundestag.