Eines muss man den Mitgliedern unserer Weltethos-Forschungsgruppe Finanzen und Wirtschaft lassen: Sie sind äußerst beharrlich, wenn es um ethische Weichenstellungen für die europäische Finanzpolitik geht. Seit Jahren engagieren sie sich durch Veröffentlichungen, kritische Analysen und Veranstaltungen für eine nachhaltige und sozialverträgliche Finanzpolitik, die globale Fragen in den Blick nimmt. Erst im Oktober beleuchteten sie auf ihrer Tagung in Frankfurt mit hochrangigen Experten die Glaubwürdigkeit, sowie die Probleme und Chancen der EZB-Nachhaltigkeitsstrategie. Die Beharrlichkeit trägt nun weitere Früchte: Am 1. Dezember wurde eine 2017 ins Leben gerufene Petition eines Vorstandsmitglieds der Forschungsgruppe im Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments diskutiert und positiv aufgenommen.
In den Zulassungskriterien für Wertpapiere und notenbankfähige Sicherheiten für geldpolitische Geschäfte mit der EZB (siehe z.B. Amtsblatt der Europäischen Union L 91/3, 2.4.2015) seien keine Beschränkungen ethischer Art explizit aufgeführt. Die Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Menschenrechte“ kommen in der entsprechenden Leitlinie rein gar nicht vor. Dies motivierte den Würzburger Wirtschaftsethiker Prof. Dr. Harald Bolsinger 2017 dazu, die von der EZB als Kreditsicherheit akzeptierten Wertpapiere erstmals hinsichtlich ethischer Kontroversen zu untersuchen. Die Ergebnisse zeigen eine aus Sicht Bolsingers inakzeptable Regulierungslücke, da die Wertpapiere mit zahlreichen ethischen Kontroversen in Verbindung stünden, welche der EU-Grundrechtscharta als Mindeststandard nicht gerecht werden. Diese Ergebnisse nahm Bolsinger, Vorstandsmitglied der Weltethos-Forschungsgruppe, zum Anlass, eine öffentliche Petition beim Europäischen Parlament einzureichen. Die Petition wurde am 08.05.2017 eingereicht und am 15.05.2017 unter der Nr. 0429/2017 mit dem Namen „Verpflichtung der Europäischen Zentralbank auf EU Grundrechtscharta“ registriert.
„Der ordnungspolitische Rahmen der EU-Grundrechtscharta ist seit dem Vertrag von Lissabon gültiges Recht – auch für die EZB!“ erklärt der Professor für Business Ethics & Economics an der Fakultät Wirtschaftswissenschaften an der FHWS. Seit 2017 beschäftige sich der EU-Petitionsausschuss mit der Umsetzung dieser einfachen Wahrheit, erklärt Bolsinger. „Am 1.12.2021 hat der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments eine weitere Gelegenheit, endlich Gerechtigkeit für alle Finanzmarktakteure herzustellen und der Europäischen Zentralbank zu verdeutlichen, dass die EU-Grundrechtscharta auch bei all ihren Geschäften einzuhalten ist.“ Nachhaltigkeit im Finanzmarkt sei nicht allein durch die Geschäftsbanken umzusetzen, sondern erfordere „ zuallererst eine glaubwürdige Zentralbank, die als gutes Beispiel voran geht, anstatt sich herauszureden. Nicht nur Klimaschutz ist relevant, sondern alle Bereiche, die schon 1999 verbindlich in der Grundrechtscharta fixiert wurden!“
Am 11. November 2019 präsentierte Bolsinger im Brüsseler Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments Forschungsergebnisse zur Grundrechtscompliance der Europäischen Zentralbank (EZB) und appellierte an die Parlamentarier, der Ethikblindheit des Eurosystems politisch zu begegnen. Nach seinen Untersuchungen sind rund 20 Prozent der Wertpapiere, welche die EZB als Pfand für Kredite an Geschäftsbanken akzeptiert, mit schwerwiegenden ethischen Kontroversen behaftet. Die Fälle reichen von Kinderarbeit, Zwangsarbeit, Korruption, Steuervermeidung und Umweltzerstörung bis hin zu Vorwürfen der Terrorismusfinanzierung und Herstellung geächteter Kriegswaffen. Das Marktvolumen der untersuchten Wertpapiere beträgt rund 14 Billionen Euro und hat damit wesentlichen Einfluss auf die Lebenswirklichkeit der Bürger der EU.
Nach einer Stellungnahme der Europäischen Kommission kommentierten Vertreter der Fraktionen im Parlament die Forderungen der Petition 0429/2017. Sie betonten deren grundlegende Bedeutung für die nachhaltige Ausrichtung der Europäischen Union und beschlossen, das Anliegen politisch weiterzuverfolgen. So sollen Bolsingers Forderungen der neuen EZB-Leitung vorgelegt werden, im Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments und an weiteren entscheidenden Stellen diskutiert werden. „Es muss zum Standard werden, dass die EZB dem Parlament regelmäßig über die Einhaltung der Grundrechte explizit für alle ihre Vermögenswerte berichtet„, so Bolsinger in seiner Präsentation vor dem Brüsseler Petitionsausschuss im Europäischen Parlament. Erfreulicherweise hat der Ausschuss die Bedeutung des Themas bei der Anhörung Bolsingers voll anerkannt und die Absicht erklärt, weitere Schritte in diese Richtung anzustrengen.