An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

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„Stadtgespräch Weltethos“ – was heißt da eigentlich „Weltethos“?

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Am Beispiel unseres Stadtgesprächs im Wintersemester 22/23 können wir zeigen, was Weltethos heißt.

Zum zweiten Mal gibt es in diesem Wintersemester ein „Stadtgespräch Weltethos“. Aber was sollen Zoom-Gespräche zu Tübinger Themen eigentlich mit „Weltethos“ zu tun haben? Was heißt das überhaupt: Weltethos?

Eine Gesprächseinladung von Dr. Christopher Gohl

Premiere vor zwei Jahren: Mit der Tübinger Bürgermeisterin Daniela Harsch und Prof. Dr. Jürgen Volkert habe ich am 9. November 2020 um 18:15 Uhr das erste „Stadtgespräch Weltethos“ eröffnet. Mit knapp 50 GesprächspartnerInnen diskutierten wir bis zum 29. März 2021 fast jeden Montag Abend: „Was lernen wir in Tübingen aus der Corona-Krise?“. Am 7. November 2022 ging’s jetzt in die zweite Runde des Zoom-Webinar-Formats: „Was lernen Universität und Stadt voneinander?“

Aber was haben denn Lernprozesse in Tübingen mit Weltethos zu tun? Weltethos meint doch „Werte, Normen und Haltungen, über die wir uns einig sind“? So, wie es das Parlament der Weltreligionen für Religionen 1993 festgestellt hat: das Prinzip Menschlichkeit, das Prinzip der Reziprozität in der Goldenen Regel, und Werte der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit, der Gewaltlosigkeit und der Partnerschaft der Geschlechter? Geht’s da nicht eigentlich um den Frieden zwischen den Religionen?

Ja. Aber: Nicht nur. Denn das Projekt Weltethos ist viel größer als dieses „Kernethos“ elementarer und bewährter Ideale menschlichen Zusammenlebens. Das wird im Gesamtwerk Küngs zu Weltethos-Fragen deutlich, beginnend in seinem Buch „Projekt Weltethos“ von 1990. Als Projekt ist Weltethos ausgerichtet auf friedliches Überleben durch Einsicht. Genauer: Es ist ein Projekt globaler und menschheitlicher Zivilisierung durch Dialog. Dafür verknüpft es drei verschiedene Erzählungen (zu drei verschiedenen Problemen) zu einem Ganzen. Wie das geht, ist ein großes Gespräch. Zum Beispiel auch ein Stadtgespräch!

Das Projekt Weltethos ist ein Gespräch der Gespräche

Nichts weniger als das Überleben der Menschheit stehe auf dem Spiel, so eröffnete Hans Küng 1990 sein Büchlein „Projekt Weltethos“ in „gewaltige(r) Rede, nicht fern prophetischer Gebärde“ (NZZ). Das Überleben brauche ein globales Ethos – kein wissenschaftliches System der Ethik, sondern „ein Minimum an gemeinsamen Werten, Normen, Haltungen“ der Weltverantwortung. Er konkretisiert sie in der Erklärung zum Weltethos 1993. Im Handbuch 2012 fasst er zusammen: „Das Projekt Weltethos strebt an: Frieden unter den Religionen, Kulturen und Nationen auf der Basis einiger gemeinsamer elementarer ethischer Werte, Maßstäbe und Haltungen“.

Was sind die Prinzipien und Werte das Weltethos? Warum sind sie dringlich und wichtig? Und wie können wir damit die Welt verändern? Auf diese drei Fragen gibt das Weltethos-Projekt in drei Ausführungen eine Antwort.

Weltethos als Kernethos: Frieden statt Konflikte durch menschliches Miteinander

Was sind die Prinzipien und Werte das Weltethos? Küng beschreibt sie als den elementaren Konsens aller großen Religionen und Kulturen: Auf diese Prinzipien und Werte könnten sich Menschen aller Herkünfte einigen. Darin ist es ein „Kernethos“ oder „Menschheitsethos“. Sein Kern ist das Bekenntnis zum Humanum, unserer universalen und gemeinsamen Menschlichkeit. Sie wird ergänzt von der Goldenen Regel der Gegenseitigkeit. Also: Wir anerkennen einander als Menschen mit je eigener Würde und behandeln uns menschlich, nicht un-menschlich oder barbarisch. Geschützt, gestützt und ausgedrückt wird diese Humanität durch weitere universale Werte. Küng beschreibt sie in der Weltethos-Erklärung von 1993: „Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor dem Leben; Solidarität und gerechte Wirtschaftsordnung; Wahrhaftigkeit und Toleranz; Gleichberechtigung und Partnerschaft.“

Die zentrale und erste Erzählung des Weltethos-Projekts heißt deshalb: Unsere Gesellschaften sind von Vielfalt geprägt. Das ist ein Problem, denn es führt zu Konflikten im Alltag und vielleicht sogar, wie viele Menschen mit Samuel Huntington fürchten, zum Kampf der Kulturen und zu Kriegen. Hans Küng hält dagegen: Weder können noch wollen wir die Vielfalt unserer religiösen und kulturellen Traditionen aufgeben. Aber um des Friedens in der Vielfalt willen können wir uns auf den Konsens der gemeinsamen menschheitlichen Prinzipien und Werte besinnen.

Diesen Konsens nennt Küng auch „Ur-Ethos“. Denn, so argumentiert er kulturanthropologisch, die Prinzipien und Werte jeweils einen ursprünglichen Lebensbereich des Menschen geprägt und sich im Laufe der Evolution bewährt hätten. Das gibt Anlass für Vertrauen, dass wir im Geiste dieser Werte über alle Grenzen hinweg auch heute gut und menschlich miteinander auskommen können. Das gilt mindestens für den Alltag unserer bunten Gesellschaften, an Schulen, in Sportvereinen und am Arbeitsplatz.

Weltethos als Ethos globaler Verantwortung: Frieden statt Krisen durch weltethische Neuordnung

Warum ist das Weltethos so dringlich und wichtig? Küng wusste, dass der kleine Frieden des alltäglichen Miteinanders nicht nur durch Vielfalt herausgefordert ist. Sondern es brauen sich, so warnte Küng seit 1990 zu fast jeder Gelegenheit, große Krisen zusammen. Das ist das zweite Problem: „Kumulative Krisen“ der Weltökologie, der Weltwirtschaft und der Weltpolitik. Rücksichtslosigkeit und Verantwortungslosigkeit holen uns ein. Schon 1990 musste deshalb die „Parole der Zukunft: Planetarische Verantwortung“ lauten: Wir überleben nur und haben nur dann eine Chance auf friedliches Zusammenleben, wenn wir globale Krisen vermeiden.

Damit ist Küng bei einer zweiten Weltethos-Erzählung. Nicht systematisch, aber häufig spricht er in diesem Zusammenhang von einem „globalen Ethos“ oder einem „Ethos globaler Verantwortung“. Um planetare, globale Krisen zu vermeiden und zu überwinden, brauche es eine neue Weltordnung. Damit spricht Küng hauptsächlich Entscheiderinnen und Entscheider an, Führungskräfte, Staatsleute, Religionsführer. Sie sollen Vereinbarungen schließen, um Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und religiöses Leben anders zu ordnen, anders zu organisieren. Nämlich im Geiste des Kernethos: Wahrhaftiger und toleranter, gewaltloser und lebensfreundlicher, solidarischer und gerechter, gleichberechtigter und partnerschaftlicher.

Küng verknüpft hier einen Diskurs der „Weltkrisenerklärung“ mit der programmatischen Ausarbeitung einer „realistischen Vision“ für den großen Frieden der Welt. Das globale Ethos planetarischer Verantwortung ist eine dringliche Einladung, Krisen zu vermeiden, das Überleben zu sichern und so den kleinen Frieden alltäglichen Zusammenlebens zu ermöglichen. Keine lebensweltliche, alltägliche „Verantwortung für Mitwelt, Umwelt und Nachwelt“ ohne „planetarische Verantwortung“ – und umgekehrt!

Weltethos als Ethos des Dialogs: Frieden als Methode der Verständigung und
Veränderung

Wie können wir mit Weltethos die Welt verändern? Das Kernethos als Fundament hier und das globale Ethos als Vision da – wie hängen sie in der Umsetzung zusammen? Darauf gibt eine dritte Weltethos-Erzählung Antwort. Hans Küng verdichtete sie schon 1990 in der knappen Formel: „Dialogfähigkeit ist Friedensfähigkeit“, oder in der Formulierung seines Dreisatzes: „Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen.“

Den Dialog beschreibt Küng als „schöpferische Umwandlung“. Wer an einem interreligiösen Dialog teilnehme, „gestehe seinem Gesprächspartner von vornherein seinen Glaubensstandpunkt zu und erwartet von ihm zunächst nur unbedingte Bereitschaft, zu hören und zu lernen, eine uneingeschränkte Offenheit, die eine Transformation beider Gesprächspartner im Lauf des Verständigungsprozesses einschließt: ein geduldig realistischer Weg.“ Der in diesem Verständnis geführte interreligiöse Dialog sei „ein epochales Unterfangen“. Nicht zuletzt deshalb, weil er mit einem fundamentalen Problem kämpft: Mit dogmatischem Starrsinn von Menschen, die die Wahrheit schon gewiss zu kennen glauben.

Beim Einzelnen setzt Dialog Dialogfähigkeit als Tugend voraus. Sie verbindet für Küng Standpunktfähigkeit hier – wissen, wer man ist und was die eigenen Gewissheiten sind – mit Neugier und Lernbereitschaft dort: Offen zu bleiben für andere, für gemeinsame Such- und Lernprozesse. Die Bedeutung der Dialogfähigkeit als Tugend könnte aber, auf das friedliche Überleben der Menschheit hingewendet, dramatischer nicht sein. Küng legt sich fest: „Von dieser, buchstäblich von dieser, wird unser aller geistiges, gar physisches Überleben abhängen“ (Küng 1990, 135).

Weltethos als dialogisches Lernprogramm der Selbst- und Weltverantwortung

Allerdings: Dialogfähigkeit als Lern-, Transformations- und Friedensfähigkeit spielt in Küngs späteren Schriften kaum noch eine Rolle. War ihre Bedeutung als Methode der Befriedung für Küng so selbstverständlich geworden, dass sie keiner weiteren Ausführung bedurfte? Vielleicht. Jedenfalls sind Dialog, Dialogfähigkeit und Dialogangebote in der Projektarbeit der Stiftung und des Instituts stets zentral und praktisch lebendig geblieben. So hat die Weltethos Stiftung gemeinsam mit dem Land Baden-Württemberg das bundesweit einmalige Projekt „Lokale Räte der Religionen“ auf den Weg gebracht. Mehr noch: In der zehnjährigen Arbeit des Weltethos-Instituts ist das Weltethos als Ethos des transformativen Dialogs in vielfacher Weise konzeptionell rekonstruiert, konkretisiert und im Kontext der Krisen und Themen unserer Zeit der „Großen Transformation“ in Wirtschaft und Demokratie betont worden. Auch Bundespräsident Steinmeier hat seine Weltethos-Rede der Idee des Dialogs als eines „Gesprächs in vernünftiger Freiheit“ gewidmet. Es scheint entsprechend konsequent und weiterführend, Weltethos auch als Ethos des Dialogs zu verstehen.

Damit wird Weltethos zum „pädagogischen Projekt“, wie es der Generalsekretär der Stiftung Weltethos Stephan Schlensog nennt. Nämlich zum Labor gelebter Demokratie, wie es im worldlab der Stiftung Weltethos für Schülerinnen und Schüler angeboten wird – oder zum interkulturellen Projekt Values are One. Gesellschaftlich gesprochen, so sagt der Direktor des Weltethos-Instituts Ulrich Hemel, wird Weltethos damit zum „Lernprogramm der Selbst- und Weltverantwortung“ – und das Projekt Weltethos ein offener Such- und Erkundungsprozess, eine Praxis ethischer Reflexion, eine Methode gemeinsamen Lernens, eine Praxis der Verständigung und Veränderung. Das reicht dann von „responsible communication“ über „responsible science“ bis zu „responsible business“, „responsible finance“ und „responsible business education“, nicht zuletzt in und durch die World Citizen School am Weltethos-Institut.

Dieses dialogische Verständnis passt zum Kernethos: Wo Menschen einander gegenseitig menschlich behandeln, wo sie gewaltlos, partnerschaftlich, fair und wahrhaftig nach friedlichem Ausgleich suchen, der allen gerecht wird, da üben sie Dialogfähigkeit ein (und vermeiden Polarisierung, Infodemien und Vertrauensverlust). Und es passt zum Ethos globaler Verantwortung als Programmatik der Krisenprävention: Auch die „große Transformation“ zur Umsetzung der Sustainable Development Goals ist ja ein großes Such- und Lernprogramm. Zu ihren Treibern gehören „ethikologische Geschäftsmodelle“ ebenso wie Stakeholder-Dialoge. Diese Dialoge werden, um mit dem Gründungsdirektor des Weltethos-Instituts Claus Dierksmeier zu sprechen, zur „Methode weltbürgerlich verantworteter Freiheit“.

Stadtgespräch Weltethos: Ein Dialog über Tübinger Formen der Weltverantwortung

Und damit zurück zum Format des „Stadtgespräch Weltethos“. Es ist ein Gespräch über Tübinger Formen der Weltverantwortung. In der griechischen Mythologie trug der Titan Atlas die Welt auf seinen Schultern. Das überfordert uns Menschen. Aber „planetarische Verantwortung“ übersetzte Hans Küng oft in die lebensweltliche „Verantwortung für Mitwelt, Umwelt und Nachwelt“. Zwar können wir auch von Tübingen aus die Welt nicht retten. Aber wir können lokale Spuren globaler Fragen im Alltag sichtbar machen, das Große im Kleinen finden und kleine Antworten auf große Fragen suchen. Vielleicht können aus manchen kleinen Antworten große Antworten werden. Wenn sie sich denn weltweit bewähren…: Das muss sich zeigen in der die Sisyphos-Arbeit der Zivilisierung – des steten Versuchs, Bedingungen zu schaffen, unter denen wir auch morgen noch und weltweit gut zusammen leben können.

Mit dem Stadtgespräch pflegen wir ein Ethos des Dialogs. Was zugleich heißt, dass wir damit die Prinzipien und Werte des Kernethos einüben und vorleben wollen. Die schärfen wiederum den Blick für die Themen des Stadtgesprächs: Was dient der Menschlichkeit, was ist wahrhaftig, gerecht, partnerschaftlich und gewaltlos? Und so rücken wir die vielfältigen Formen der lebensweltlichen Verantwortung in Tübingen in den Fokus, schaffen Gelegenheit für Würdigung und Kritik – und fragen, was davon auch andernorts taugen könnte. Weltethos als Stadtgespräch: Das ist eine Einladung zum zum Zuhören und Mitmachen!

Über den Autor:

Dr. Christopher Gohl

Dr. Christopher Gohl

Dr. Gohl forscht und lehrt seit 2012 am Weltethos-Institut an der Uni Tübingen zur Entstehung und Wirkung von Werten, zur Ethik in Unternehmen und Wirtschaft und zur lernenden Demokratie. 2021 war er für die FDP Abgeordneter im Deutschen Bundestag.