An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

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10 Jahre Weltethos-Institut: Wirtschaftliche Weltverantwortung als Lernprogramm

Macht und Ohnmacht, Probleme und Lösungen kennzeichnen unsere Welt. Globale Herausforderungen erfordern mehr denn Lernprogramme für Verantwortung. Der geduldige Weg des ethischen Handelns aber braucht Übung. Und er braucht einen Ort, der Theorie und Praxis verbindet, das Lernen und Einüben ethischer Sprachfähigkeit ebenso wie die Reflexion über Ziele, Voraussetzungen und Kontexte ethisch gute Handelns. Gerade im Bereich Wirtschaft und Gesellschaft brauchen wir den Aufbau von Vertrauen und die Einübung von Verantwortung. Dafür steht das Weltethos-Institut, inzwischen seit 10 Jahren!

Ein Rückblick von Dr. Christopher Gohl

Das Tübinger Weltethos-Institut wurde nicht an einem Tag allein gegründet – aber feierlich eröffnet wurde es am 18. April 2012 im Festsaal der Neuen Aula der Universität Tübingen. Auf Einladung von Prof. Dr. Hans Küng, nach einführenden Reden des Rektors der Universität, Prof. Dr. Bernd Engler, und des Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann und in Gegenwart des Mäzens Prof. h.c. Karl Schlecht hielt der Gründungsdirektor des neuen An-Instituts der Universität Tübingen, Prof. Dr. Claus Dierksmeier, die 10. Weltethos-Rede zum Thema „Wie sollen wir wirtschaften? Weltethos im Zeichen der Globalität“.

Mit dem Titel der Rede war zugleich die Aufgabe des Instituts beschrieben: Die große und vertrauensstiftende Idee des Weltethos auf grundsätzliche wie praktische Fragen der wirtschaftlichen Praxis anzuwenden. Schon 2010 war ein erster Satzungsentwurf aus der Feder des langjährigen Kanzlers der Universität Tübingen, Prof. Georg Sandberger entstanden, der diesem Zweck eine institutionelle Form geben sollte. Dafür zusammengefunden hatten sich auf Initiative von Karl Schlecht die Stiftung Weltethos, die Universität Tübingen und die Karl Schlecht Stiftung (KSG). Am 14. April 2011 war die Schenkungsurkunde unterzeichnet worden, mit der die KSG die großzügige und langfristige Finanzierung des Instituts zusagte. Mitte Dezember 2011 nahm der Philosoph und Ethiker Prof. Dr. Claus Dierksmeier, bis dato Distinguished Professor of Globalization Ethics am Stonehill College in Boston, den Ruf nach Tübingen an, zusammen mit Dr. Stephan Schlensog, dem langjährigen Generalsekretär der Stiftung Weltethos, das Weltethos-Institut an der Universität (kurz: WEIT) aufzubauen.

Das kleine Team wuchs rasch: Schon zwei Tage vor der Eröffnung des Instituts mit der Weltethos-Rede trat Christina Illek zum 16. April 2012 als erste Instituts-Assistentin ihre Arbeit an. Es folgten weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Dr. Christopher Gohl, Michael Wihlenda, Madeleine Joo Weber, Katharina Hoegl und Beata Beier – und ein Strategieprozess, bei dem im Juli und August insgesamt 29 Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Politik, Medien und Wissenschaft systematisch konsultiert wurden. Vor dem neuen Team um Claus Dierksmeier lag die Aufgabe, die große Idee eines Weltethos philosophisch zu begründen, sozialwissenschaftlich zu rekonstruieren, auf die Wirtschaft anzuwenden und in Lehre und öffentlichem Dialog zu vermitteln. Bis Jahresende stand denn auch, gezielt unterstützt von Dr. h.c. Ernst Susanek und Prof. Dr. Klaus Leisinger, ein vom Beirat genehmigter Fünf-Jahresplan für Forschung, Lehre und Praxistransfer – drei Bereiche, die einander seither vielfältig durchdringen und gegenseitig bereichern. Stets sollten, so die „3M“-Strategie des Instituts, zusammen mit (1) Multiplikatoren neue und wirkmächtige (2) mentale Modelle für (3) modulare Argumente herausgebildet werden, um eine kluge und vertrauensvolle Unternehmensführung im Geiste des Weltethos zu ertüchtigen.

Im mitunter spannungsreichen Versuch, den unterschiedlichen Erwartungen der drei Stakeholder Stiftung Weltethos, Universität Tübingen und Karl Schlecht Stiftung gerecht zu werden, entstand in den kommenden Jahren das besondere Profil des Weltethos-Instituts als öffentlicher Ort eines großen, vielstimmigen weltethischen Gesprächs. So war und ist die Arbeit des Weltethos-Instituts vor allem eins: Ein Lernprozess für alle Beteiligten. Das sollte Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel dann zu seinem Amtsantritt als Direktor am Weltethos-Institut ab 2018 auf eine treffende Formel bringen: „Weltethos meint ein Lernprogramm für Selbst- und Weltverantwortung“.

Das war und ist ganz im Sinne der Weltethos-Idee von Prof. Hans Küng. 1990 hatte er mit seiner Publikation „Projekt Weltethos“ zum ersten Mal die Idee planetarischer, menschheitlicher Verantwortung formuliert und Wege aufgezeichnet, wie Menschen guten Willens, auch und gerade religiös Glaubende, im Dienst von Mitwelt, Umwelt und Nachwelt friedlich zusammenarbeiten können. „Dialog- als Friedensfähigkeit“ war aber für Küng ohne Forschung nie zu haben. Jetzt sollte das Weltethos-Institut „Grundlagenforschung und Lehre zur wissenschaftlichen Fundierung der Idee eines Weltethos in der Gesellschaft und globalen Wirtschaft im Sinne der Förderung eines Dialogs der Religionen und Kulturen“ leisten, wie es die Satzung verhieß – mit einem besonderen Fokus auf „Vertrauen im Business“, so Stifter Karl Schlecht. Dazu passte das Motto der Exzellenzinitiative der Eberhard Karls Universität Tübingen „Research – Relevance – Responsibility“: Forschung im Blick auf ihre Wirkung.

Schon im Gründungsjahr markierten erste Meilensteine die verschiedenen, aber komplementären Wege der Institutsarbeit:

  • Bereits im April 2012 öffnete das Weltethos-Institut seine Türen für die ersten vier Seminare, in der Sache prägend mit den Titeln „Interkulturelle Kompetenz – Hinduismus” von Dr. Stephan Schlensog sowie die von Partnern der KIWI Kirche und Wirtschaft AG angebotenen Seminare „Ethische Entscheidungsfindung – ethische Dilemmata” „Unternehmensethische Fallstudien” sowie „Berufsethos und innere Haltung”. Bis heute sind über 200 Seminare als Teil des Lehrbetriebs der Universität Tübingen durchgeführt worden.
  • Mit einer ersten gemeinsamen Tagung des Weltethos-Instituts Tübingen und des Wittenberg-Zentrum für globale Ethik am 5. Juni 2012 meldete sich das WEIT im Diskurs zur globalen Wirtschafts-, Unternehmens- und Führungsethik an. Unter Beteiligung u.a. der Wittenberger Professoren Karl Homann und Andreas Suchanek sowie der Tübinger Professoren Hans Küng und Heinz‐Dieter Assmann wurden Möglichkeiten der Zusammenarbeit besprochen, die bis heute – etwa in einem gemeinsamen Doktoranden-Kolleg – fruchtbar sind.
  • Die von Rektor Engler einberufene „Plattform IV Gruppe Globalisierung“ begann ihre Arbeit im Sommer 2012 mit drei von Dr. Christopher Gohl moderierten und von Prof. Claus Dierksmeier konzeptionell geprägten Treffen am Weltethos-Institut. Damit beteiligte sich das WEIT schon ganz zu Beginn der Exzellenzinitiative der Universität Tübingen an der Erarbeitung und Bearbeitung einer Agenda anwendungsbezogener Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften.
  • Mit Vorbereitungstreffen für die Academy of Management (AOM) 2013 ging das WEIT im Herbst 2012 innerhalb des noch jungen Humanistic Management Netzwerkes in Führung, zu dessen erster Generation Claus Dierksmeier selbst gehörte. Dabei entstand eine Forschungskooperation zu Responsible Management Education, deren Erkenntnisse fortan nicht nur den vor allem von Christopher Gohl fokussierten Ansatz des Weltethos-Instituts in der Lehre prägen sollten, sondern auch 2018 in einen Artikel im prestigeträchtigen Journal of Business Ethics mündeten, welcher 2022 mit dem ersten R. Edward Freeman Journal of Business Ethics Philosophy in Practice Best Paper Award ausgezeichnet wurde.
  • Mit dem ersten Unternehmensbesuch beim Aichtaler Betonpumpen-Hersteller Putzmeister begann am 19. September 2012 der Austausch mit regionalen Unternehmen. Gastgeber Prof. h.c. Karl Schlecht, Gründer und ehemaliger Vorstandvorsitzender des Unternehmens, gab eine Betriebsführung und zugleich Einblick in sein unternehmerisches Ethos, das maßgeblich auch die Gründung und Arbeit des WEIT beeinflusst – eine prägende Erfahrung für alle Beteiligten.
  • Von September 2012 bis Januar 2013 hatte das WEIT seinen Einstand als Tübinger Institution und Gastgeber der Stadtgesellschaft: Aufgrund von Sanierungsarbeiten im Rathaus hielt der Stadtrat seine Ausschuss-Sitzungen ein- bis zweimal wöchentlich mit rund 50 Mitgliedern im Seminarraum des Instituts ab. Seither haben Vertreter der Stadtgesellschaft über 100 Veranstaltungen zu Fragen wirtschaftlicher, interreligiöser, interkultureller oder globaler Verantwortung am Institut ausgerichtet.
  • Am 2. Oktober 2012 eröffnete Claus Dierksmeier in Kooperation mit dem heutigen Geschäftsführer des Instituts, Dr. Bernd Villhauer, die Veranstaltungsreihe „Klüger Wirtschaften“, die bis zur Corona-Krise regelmäßig stattfindende Großveranstaltung des WEIT. Über 200 Gäste, unter ihnen Professor Dr. Hans Küng und OB Boris Palmer, erlebten eine anregende Diskussion über kooperative Formen des Wirtschaftens mit Prof. Birger Priddat und Christian Felber. In Folge dieser Veranstaltung gründeten Studentinnen und Studenten in Tübingen die „Gemeinwohl-Ökonomie Lokalgruppe Tübingen“ – und die Veranstaltungsreihe selbst sollte zu einer der erfolgreichsten Formate des Instituts werden. Gäste wie Heiner Geissler, Sahra Wagenknecht, Götz Werner, Ralf Fücks, Prof. Dr. Lisa Herzog, Prof. Dr. Niko Paech, Timo Daum, Prof. Heike Hölzner, Dr. Zitelmann und Ulrike Herrmann konnten ihre Bücher vorstellen und wurden im krirtischen Gespräch live und gerne kontrovers rezensiert von renommierten Forschern.
  • Im Workshop „Ökonomisch selbst denken“ am 1. Dezember 2012 setzen sich Studierende der Initiative oikos Tübingen kritisch mit ihrem Studium auseinander. Unter der Anleitung und Begleitung von WEIT-Mitarbeiter Michael Wihlenda erwuchs aus diesen Anfängen sowohl die „World Citizen School“ des Instituts als auch die Gastgeberschaft des WEIT für die erste Tagung der International Student Initiative for Pluralist Economics im September 2014.

Die Aussaat von 2012 trug auch 2013 weitere Früchte: Zur ersten Veranstaltung „Profite mit Prinzipien“ war am 22. Januar 2013 DIHK-Ehrenpräsident Prof. Ludwig Georg Braun zu Gast. Er zog, ebenso wie die mittlerweile in Tübingen und Stuttgart mit Partner-Organisationen stattfindende Reihe, zahlreiche Tübinger Unternehmerinnen und Unternehmer ans Institut. Bei einer gemeinsamen Tagung am 1. Februar 2013 zum Menschenbild der Wirtschaftswissenschaften war zum ersten Mal Prof. Ulrich Hemel als (Mit-)Veranstalter in der Hinteren Grabenstraße; woraus wiederum ein Sammelband entstand, der die Argumente der Direktoren Dierksmeier (bis 2018) und Hemel (ab 2018) vereint. Im Oktober 2013 fand die erste, lang geplante internationale Humanistic Management Konferenz statt, bei der der ehemalige Finanzminister Theo Waigel eine Keynote hielt. Vier weitere solcher Konferenzen sollten folgen: Wiederholt war dazu Prof. Dr. Jeffrey Sachs zu Gast, der zu einem wichtigen Gesprächspartner und Anwalt der Weltethos-Idee wurde (vgl. auch hier).

Kluge und vertrauensbildende Führung, Tugendethik, Humanistisches Management, soziale Innovationen und Stakeholder-Dialoge in der Wirtschaft: Das waren die ersten großen Themen der Forschung und Anwendung des Instituts unter Direktor Claus Dierksmeier. Sie begründen eine Einsicht von Karl Schlecht: „Wahrer Führungserfolg basiert auf Vertrauen, auf guten Entscheidungen und auf der Liebe zum Tun. Dies erfordert eine aktive und produktive Charakterorientierung auf der Grundlage humanistischer Bildung“. 2016 legte Dierksmeier dazu zwei Grundlagenwerke vor: „Qualitative Freiheit. Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung“ war, mit einem Vorwort von Hans Küng, eine säkulare, philosophische Begründung des Projekts Weltethos. Das Buch „Reframing Economic Ethics. The Philosophical Foundations of Humanistic Management“ wendet den Grundgedanken der „qualitativen Freiheit“ dann auf die Wirtschaft an und machte das Institut zu einem Zentrum der Begründung, Forschung und Anwendung humanistischen Managements im Geiste weltbürgerlicher Verantwortung.

Dierksmeier gelang es zudem, u.a. mit Klaus Schuler, Detlef Lohmann,  Dr. Alexander Insam, und Dr. Raban D. Fuhrmann (2017 der Gründungsvorsitzende des Freundeskreises des WEIT) erfahrene Unternehmer und Berater in die Institutsarbeit einzubinden. Sie zeigten und zeigen auf, wie Weltethos-Ideen in Unternehmen und Organisationen wirken könnten, und beflügelten damit Forschung wie Lehre. Eine besonders herausgehobene und produktive Rolle spielt seit 2014 der Unternehmer und Philosoph Dr. Friedrich Glauner. Er hat mit zahlreichen Case Studies und konzeptionellen Beiträgen die Bedeutung von Weltethos-Werten für nachhaltige, innovative und resiliente Geschäftsmodelle herausgearbeitet. Seine Beiträge in Forschung und Lehre waren und sind Schrittmacher der Diskussion über Weltethos in der Wirtschaft. Jüngste Frucht seiner Arbeit ist die Erscheinung „Alles neu. Geschäftsidee, Geschäftsmodell, Unternehmensplanung“, veröffentlicht zusammen mit Dr. Bernd Villhauer.

In deren Zeichen standen und stehen auch die Forschungen und Beiträge von Dr. Christopher Gohl, Dr. Bernd Villhauer, Hanna Schirovsky und Anna Tomfeah. Sie knüpf(t)en an bereits bestehende sozial-, wirtschafts- und finanzwissenschaftliche Diskurse des Weltethos-Projekts an, entfalten diese mit den Ideen weltethisch verantworteter Freiheit und humanistischen Managements und führen sie in je eigene und neue Netzwerke ein. Einen Einblick in die Vielfalt und Fruchtbarkeit all dieser Ansätze gibt der 2020 von Ulrich Hemel im Herder Verlag herausgegebene Sammelband „Weltethos für das 21. Jahrhundert. Wie eine bessere Globalisierung gelingt“.

  • Mit einem Fokus auf die Entstehung und Wirkung von Werten forscht Dr. Christopher Gohl seit 2012 zu Schnittstellen, Dialogen und Lernprozessen zwischen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik. Ihn treibt dabei die Frage um, wie wir lernen können, in weltethisch verantworteter Freiheit zusammen zu leben und zu wirtschaften. Als Koordinator der Lehre am Weltethos-Institut organisiert er regelmäßig Ringvorlesungen (im Studium Generale) und „Stadtgespräche“ zur Aktualität der Weltethos-Werte, die er auch öffentlich vielfach vertritt. Regelmäßige Kolloquien zusammen mit Dr. Raban Daniel Fuhrmann gelten der transformierenden Lehre, vertieft zu Themen globalen Lernens und der Demokratieentwicklung.
  • Dr. Bernd Villhauer, gelernter Industriekaufmann und promovierter Philosoph, konzentriert sich neben seiner Tätigkeit als Geschäftsführer (in der Nachfolge von Dr. Stephan Schlensog seit 2015) auf das Thema Weltethos in der Finanzwirtschaft – ein schon für Hans Küng besonders wichtiges Thema. Das hat nicht nur ihn zum nachgefragten Experten und Gastgeber zahlreicher Gespräche, Forschungsgruppen, Arbeitskreise und Seminare zum Thema gemacht, sondern das Institut auch zu einem international beachteten Forum zu Themen der Responsible Finance (vgl. auch unten).
  • Hanna Schirovsky widmete sich zwischen 2016 und 2020  theoretisch und praktisch in Kooperation mit Prof. Jürgen Volkert von der Hochschule Pforzheim besonders dem Weltethos in Bezug auf Lebenschancen von Geflüchteten. Sie koordinierte zudem die Forschung am Institut und verabschiedete sich mit der Organisation des Sammelbandes Sammelband „Weltethos für das 21. Jahrhundert“.
  • Anna Tomfeah, seit Ende 2017 verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit des Instituts, begründete 2019 das Projekt „Responsible Communication (ResCom)“. Gemeinsam mit Partnern aus der Kommunikationsbranche entwickelt sie ein Lernprogramm zur Weiterbildung von Kommunikationsfachleuten mit dem Ziel, Weltethos in der öffentlichen Kommunikation zu stärken. Im Juli 2021 erschien mit “Glaubwürdige Unternehmenskommunikation – Impulse für eine verantwortungs- und wirkungsvolle Praxis” das erste Buch der Projektgruppe im Springer Wissenschaftsverlag. 

Die Ideen und Schwerpunkte der Weltethos-Forschung inspirierten früh auch Studierende. Von Anfang fanden interessierte und engagierte Studierenden ihren Weg in die Seminare und Veranstaltungen des Weltethos-Instituts, wo sie ihre ausgeprägte Neugierde auf Formen der Weltverantwortung stillen konnten. Dies umso mehr, als Michael Wihlenda, selbst Doktorand am Institut, aus dem „Student Hub“ (2013) für studentische Initiativen und Organisationen zunächst die „School for World Citizens“ (2014) und dann endlich die „World Citizen School“ (2015) schuf. Sie ist eine wahrhaft weltethische Bildungsinnovation, indem sie freiwilliges studentisches Engagement und selbstbestimmtes, werteorientiertes Lernen im Dienst einer starken globalen Zivilgesellschaft fördert. Dafür sind, nicht zuletzt von herausragend kreativen Koordinatorinnen wie Katerina Filippidou und Nadja Büchler, eine eigene Corporate Identity und besondere Lern- und Ausbildungsprogramme geschaffen worden. Das stößt auf Nachfrage, die Wihlenda als Bildungsentwickler mittlerweile auch an eine Reihe von anderen Universitäten geführt hat. Die World Citizen School verknüpft, seit 2020 vor Ort unter der Leitung von Dr. Julia Schönborn und seit November 2021 gefördert von der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt, damit „Formen professionellen Lernens mit Formen des pluralitätsfähigen Identitätslernens„.

„Professionelles Lernen“ und „pluralitätsfähiges Identitätslernen„: Das sind zwei Aspekte der von Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel ab 2018 eingeführten Idee, Weltethos als Lernprogramm für Selbst- und Weltverantwortung“ zu verstehen. Es war der Wunsch des Stifters gewesen, mit dem erfahrenen Unternehmer und Manager Ulrich Hemel die Praxisorientierung des Instituts zu stärken. Forschung und Lehre am Institut profitieren seither aber zugleich von den akademischen Perspektiven des in Katholischer Theologie promovierten und in Religionspädagogik habilitierten Forschers Hemel. Denn Weltethos als Lernprogramm zu begreifen, heißt die praktische ethische Sprach- und Handlungsfähigkeit von Akteuren zu ertüchtigen – und damit schließt sich der Kreis zu Hans Küng und Claus Dierksmeier, Begegnungen im Zeichen weltethisch verantworteter Freiheit als Lernprozesse zu organisieren. „Dialogfähigkeit ist Friedensfähigkeit“ (Hans Küng), weil Dialogfähigkeit eine bestimmte Art der Lernfähigkeit ist: Die Fähigkeit, aus der Erfahrung von Erfolgen und Fehlern das Wissen abzuleiten, wie wir uns menschlicher, fairer, wahrhaftiger und partnerschaftlicher verhalten sollten.

Diese Einsichten prägen auch das von Hemel ins Leben gerufene Weltethos-Ambassador-Programm. Dieses Angebot im Bereich Executive Learning, zunächst organisiert von Hanna Schirovsky (2018 -2019) und Elena van den Berg (2020-2021), richtet sich an Führungskräfte in Unternehmen und Organisationen. Teilnehmenden wird ein umfangreiches Basis- und Orientierungswissen vermittelt, so dass sie für ethische, soziale und interkulturelle Konflikte am Arbeitsplatz sensibilisiert werden, ihre ethische Sprach- und Handlungskompetenz ertüchtigen und die Weltethos-Idee im eigenen Unternehmen und darüber hinaus vertreten. Etwa, indem sie ihr Risikomanagement nachhaltig ausrichten oder ihre Teams in einer Kultur des Vertrauens führen. Im Netzwerk der Ambassadoren entstehen zudem eigene Ideen und Initiativen, die das Projekt Weltethos bereichern.

Mit Prof. Hemel hat sich das Weltethos-Institut zudem wieder stärker den Megatrends gestellt. Dazu gehörte zuerst die Digitalisierung. Mit seinem Werk „Kritik der digitalen Vernunft. Warum Humanität der Maßstab sein muss“ (2020) macht Hemel den weltethischen Zentralwert der Humanität zum Maßstab der digitalen Transformation und zeigt auf, welche sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen sie haben könnte. Damit erschließt er dem Weltethos-Projekt nicht nur ein Zukunftsthema, sondern auch ein Thema von praktischer lokaler Bedeutung. Denn die Tübinger Cyber Valley Initiative hat sich seit 2017 zu Europas größtem Forschungskonsortium im Bereich Künstlicher Intelligenz entwickelt. 2019 wurde nach Vorschlägen von Hemel ein „Public Advisory Board“ als Öffentlicher Beirat eingerichtet, der Forschungsprojekte hinsichtlich ihrer ethischen und gesellschaftlichen Implikationen bewertet. Hemel ist stellvertretender Sprecher.

Einen zweiten Megatrend erkennt das Institut in der steigenden Bedeutung von Religionen als Akteuren der Zivilgesellschaft. Dies wirft die Frage auf nach „demokratiefähigen Religionen“, aber auch „religionsfähigen Demokratien“. Hemel, zugleich Vorsitzender des Bundes Katholischer Unternehmer, bearbeitet diese Fragen zusammen mit Christopher Gohl. Beiden ist wichtig, dabei auch die religiösen Anteile der Sozialen Marktwirtschaft herauszuarbeiten. Zusammen mit Prof. Dr. Nils Goldschmidt, dem Vorsitzenden der traditionsreichen Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, und Prof. Dr. Jeffrey Sachs, dem Direktor des UN Sustainable Development Solutions Network, haben sie in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, die Soziale Markwirtschaft als internationales Friedensprojekt zu verstehen und auszuweiten. Besondere Resonanz hat dieser Vorschlag in Asien, aber vor allem auch in Lateinamerika gefunden.

Zudem ist das Weltethos-Institut zu einem wichtigen Netzwerkknotenpunkt im Bereich „Responsible Finance“ geworden. Geschäftsführer Bernd Villhauer hat durch zahlreiche Publikationen und Vorträge, vor allem aber durch Vernetzung mit anderen Partnern in Wirtschaft und Zivilgesellschaft das Weltethos-Denken auf die strategischen Landkarten der Finanzwirtschaft und Finanzwissenschaft gesetzt. Davon zeugt auch die Ansiedlung der renommierten Forschungsgruppe von Prof. Johannes Hoffmann am WEIT, die den „Frankfurt-Hohenheimer Leitfaden“ erarbeitet hat, eine wesentliche Grundlage für Öko-Ratings in der Finanzbranche. Die Forschungsgruppe hat zwei vielbeachtete Kongresse zur Nachhaltigkeitspolitik der Europäischen Zentralbank organisiert und bereitet in Zusammenarbeit mit dem Club of Rome weitere Arbeiten zum Finanzmarkt vor.

Diese beispielhaft genannten, aber auch so viele andere Kooperationen zeigen: Das Weltethos-Institut ist weit mehr als nur die in der Hinteren Grabenstraße 26 in Tübingen anzutreffenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es verstand sich schon von Anfang an im Geist des partizipativ gestimmten Direktors Claus Dierksmeier („Freiheit als Methode“) als Projekt der Partnerinnen und Partner an der Universität Tübingen, der Stiftung Weltethos und der Karl Schlecht Stiftung. Das Fundament dafür entsteht im Beirat, der seit 2013 vom Präsidenten der Stiftung Weltethos, dem langjährigen Präsidenten des baden-württembergischen Staatsgerichtshofs, Eberhard Stilz so um- wie weitsichtig geführt wird.

Die Arbeit des Instituts lebte und lebt aber auch von Mitarbeitern wie etwa Jonathan Keir, der zunächst als Doktorand zum Thema Weltethos in den Seminaren saß, bevor er, beginnend als Dozent 2015, selbst das Projekt seither in vielen Funktionen und an vielen Orten bereichert hat. Oder sie profitiert von den Partnerinnen und Partner der benachbarten Institute, dem Erich Fromm Institut und dem China-Institut. Oder vom „Projekt Cassandra“, einer Kooperation des Bundesverteidigungsministeriums und des Weltethos-Instituts zur Krisenfrüherkennung und Gewaltprävention unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Wertheimer. Und sie wird getragen von so vielen weiteren Freundinnen und Freunden des Instituts, nicht zuletzt von dem jetzt von Maurizio Gasperi und Michael Kohlhaas geführten Verein der Freunde des Weltethos-Instituts.

Zehn Jahre Weltethos-Institut an der Universität Tübingen wären gar nicht möglich gewesen ohne die alltägliche Sorge um Infrastruktur, Organisation, Termine und Korrespondenz. Zu den guten und tragenden Geistern der Arbeit am Institut gehörten im ersten Jahrzehnt die Assistentinnen Christina Illek (2012-2020) und Esther Nezere (seit 2015), die Projektkoordinatorinnen Marie Joo Weber (2012-2014), Katharina Hoegl (2012-2016) sowie der Mann für Technik, Ton und Social-Media, Arben Kukaj (seit 2019). Unterstützt wurde das gesamte Team von über 50 wissenschaftlichen Hilfskräften, die oft eigene Ideen und Initiativen umsetz(t)en und den Geist der Weltethos-Idee seither in Forschung, Unternehmen, Medien, Kultur und Politik hinaustragen. Was natürlich auch die Aufgabe der vom Institut stets erwarteten Öffentlichkeitsarbeit war, um die sich Beata Beier (2012-2014), Claire-Marie Vagedes (2016-2017) und Anna Tomfeah (seit Ende 2017) zusammen mit Annette Guthy (seit 2016) besonders verdient gemacht haben.

Zehn Jahre Weltethos-Institut an der Universität Tübingen zeigen: Der Quellcode des Projekts verknüpft vielfältige Beiträge zur Einheit der Weltverantwortung in der Wirtschaft. Auf unruhige Zeiten antwortet das Weltethos-Projekt mit einer Ermutigung: Drängende Herausforderungen wie den Klimaschutz, die Corona-Pandemie oder gesellschaftliche Polarisierung können wir gemeinsam bewältigen, wenn wir uns an elementaren, weltweit bereits geteilten Werten der Humanität ausrichten. Das kommt an: Die Nachfrage für das Lernprogramm Weltethos steigt. Die philosophischen, säkularen Fundamente sind am Institut gestärkt worden. Der Anschluss an sozialwissenschaftliche Forschung wird ausgebaut, die junge Generation mit neuen Formen angesprochen. Weltethisches Denken erschließt und durchdringt neue Themen, Diskurse und Praktiken. In dem Maße, in dem die Zahl der Praktikerinnen und Praktiker der Weltethos-Idee in den Unternehmen steigt, lernt zugleich auch das Weltethos-Projekt dazu. Weltethos lebt und bewegt!

Am Anfang aber wie am Ende ist und bleibt das Weltethos-Projekt auch am Weltethos-Institut immer eines: Ein Gesprächsangebot – eine Einladung an alle Menschen guten Willens, sich an den Lernprozessen für Selbst- und Weltverantwortung mit eigener Stimme und mit eigenen Erfahrungen zu beteiligen. Kann das anstehende Jahrzehnt der Umbrüche zu einem Jahrzehnt weltverantwortlicher Aufbrüche werden? Dazu wollen wir in Forschung, Lehre und öffentlichem Engagement auch in Zukunft unseren Beitrag leisten.

Das Team des Weltethos-Instituts 2021

Über den Autor:

Dr. Christopher Gohl

Dr. Christopher Gohl

Dr. Gohl forscht und lehrt seit 2012 am Weltethos-Institut an der Uni Tübingen zur Entstehung und Wirkung von Werten, zur Ethik in Unternehmen und Wirtschaft und zur lernenden Demokratie. 2021 war er für die FDP Abgeordneter im Deutschen Bundestag.