Ein Blogbeitrag von Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel
Eine Krise kommt fast immer überraschend. Andernfalls könnte man sich konkret vorbereiten. Ein angekündigter Sturm ist keine Krise: Die Häuser werden wetterfest gemacht, die Rollläden heruntergelassen, der Sturm kann kommen.
Lernen für die Krise gehört in die Klasse der Vorbereitungshandlungen. Menschen können planen und organisieren, sie können mehr oder weniger gut antizipieren, was kommt. Aus diesem Grund gibt es Erste-Hilfe-Kurse, Notfallpläne und Spielregeln vernünftigen Sozialverhaltens.
Lernen in der Krise ist etwas anderes. Es handelt sich um situatives und adaptives Lernen. Wir sind als Menschen mit einer neuen Situation konfrontiert, in der bisher bewährte Verhaltensmuster an ihre Grenzen kommen. Lernen in der Krise findet außerdem statt in einem besonderen Zustand der Aufmerksamkeit und Vigilanz: Panik lähmt, Hysterie übertreibt, Phlegma unterschätzt die Gefahr.
Eine Frage der Balance
Wie so oft, bewährt sich hier die Haltung des „richtigen Mittelwegs“. Da geht es nicht um die Verklärung des lauwarmen Durchschnitts, sondern um eine Haltung, die ungeeignete Extreme vermeidet. Gesucht wird also die „goldene Mitte“ adaptiven Verhaltens. Dabei geht es auch um „Versuch und Irrtum“. Nicht alle Maßnahmen führen zum Erfolg, aber die eine oder andere sehr wohl.
Interessanterweise ist der Mensch mit seiner adaptiven Katastrophenkompetenz sowohl Tieren wie auch Maschinen Künstlicher Intelligenz eher überlegen. Menschen sind eher gut darin, eine Vielzahl verwirrender Parameter zu verarbeiten. Sie ziehen nicht immer die richtigen Schlüsse, aber auch nicht immer die falschen. Und sie sind in der Lage, sich sozial auszutauschen, über welche Kanäle auch immer. Dadurch wiederum steigt die Chance für das Auffinden von geeigneten Handlungspfaden, die dann verallgemeinert werden können.
Lernen in der Krise setzt jedoch Hoffnung voraus. Wo keine Hoffnung ist, hat es auch die Resilienz schwer. Widerstand gegen die negativen Auswirkungen einer Krise kann nur dort mobilisiert werden, wo Menschen sich einen Zustand „nach der Krise“ imaginieren können. „Die Krise bleibt nicht ewig“, das ist das stillschweigende Mantra aller Krisenbekämpfer.
Paradoxerweise benötigen Menschen daher in der Krise nicht nur Signale der Gefahr, sondern auch Symbole der Hoffnung. Bei jedem Erdbeben gibt es das Kind, das nach 10 Tagen noch gerettet wird. Nicht, dass die vielen Todesopfer nicht tragisch wären. Aber die Aktivierung von Hoffnungs- und Handlungskräften benötigt Licht am Ende des Tunnels, wenigstens in kleinen Dosen.
Lernen in der Krise braucht außerdem die Unterstützung durch regelmäßige Handlungsroutinen. Die Krise wirbelt vieles durcheinander, aber nicht alles. Sie führt zu notwendigen Verhaltensänderungen, aber nicht in jeder Hinsicht. Die Stütze durch alltägliche Praxis ist wichtig, einfach weil das Leben weiter geht und nicht stillstehen kann.
Globales Lernen in Zeiten der digitalen Transformation
Dies gilt auch für die gegenwärtige Krise rund um die Ausbreitung des Corona-Virus. Sie ist beängstigend, weil es anfänglich noch keinen Impfstoff gab. Sie führt zu enormen sozialen, politischen und praktischen Herausforderungen.
Aber sie ist auch eine Chance für das Lernen in der Krise. Vieles spricht dafür, dass die digitale Transformation in dieser Krise noch weiter beschleunigt wird: Durch Telefonkonferenzen, Videokonferenzen, aber auch durch digitale Medien des Lernens. Dabei handelt es sich aus dem Blickwinkel der gegenwärtigen Krise um „virenfreie Kommunikationskanäle“. Zumindest dann, wenn das Wort „virenfrei“ auf körperliche Viren angewendet wird, nicht auf Software-Viren.
Menschen können solidarisch handeln, wenn sie den Wert der Solidarität erkennen. Panik ist kein guter Ratgeber, krasser Egoismus beim Horten von Toilettenpapier auch nicht. Menschen müssen sich um das eigene Haus kümmern, aber eben doch auch um den Nachbarn. Und der Nachbar kann auch ein ganz Fremder sein. Denn das Leid der aus Idlib in Syrien Anfang 2020 vertriebenen Menschen wird nicht dadurch geringer, dass es im Schatten des Corona-Virus weniger Aufmerksamkeit findet.
Lernen in der Krise hat einen technischen, einen individuellen, einen sozialen und einen politischen Aspekt. Es verlangt die Fähigkeit zum klaren Blick, aber auch den Mut, neue Entscheidungen zu treffen. Doch auch in der Krise gilt: Es wird ein Leben nach der Krise geben. Womöglich anders, womöglich nicht ohne Trauer, nicht ohne Verlust.
Zur Conditio Humana aber gehört es, dass es ein Leben nach der Katastrophe gibt. Die Aufgabe unser aller unter weltethischen Gesichtspunkten wiederum ist es, dass die Gesundheitskrise nicht zu einer moralischen Katastrophe führt. Denn Menschen leben ihre Menschlichkeit dann am besten aus, wenn sie tatsächlich solidarisch sind- weit über das eigene Haus und den eigenen Garten hinaus.