An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

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Zwischen Krisen und Konsens: Tübinger Bündnis für Demokratie und Menschenrechte sucht nach Antworten 

Das neue und regionale Tübinger Bündnis für Demokratie und Menschenrechte traf sich am 17. März zur Aussprache im Weltethos-Institut. Gastgeber Dr. Christopher Gohl notierte seine Beobachtungen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber in der Hoffnung auf eine gemeinsame Grundlage zur Fortführung des Gesprächs. 

Zu einem offenen Bündnisgespräch über Demokratie und Menschenrechte kamen am 17. März 2024 Vertreterinnen und Vertreter des im Februar 2024 begründeten regionalen Tübinger Bündnisses für Demokratie und Menschenrechte im Weltethos-Institut zusammen. Auf Einladung von Gastgeber Dr. Christopher Gohl diskutierten über 30 Teilnehmende von verschiedenen Tübinger Initiativen, Parteien und Kirchen und Gewerkschaften drei Fragen: 

  1. Woran liegt es, dass rechtsextreme Positionen für eine steigende Zahl von Menschen attraktiv werden?  
  1. Welche blinden Flecken, Aha-Momente oder Fehler haben wir (oder unsere „Blase“) in der Vergangenheit selbst gehabt oder gemacht?  
  1. Und drittens, zum Selbstverständnis, welche Werte, Hoffnungen und Praktiken verbinden uns als Demokratinnen und Demokraten?  

Zunächst trugen die Teilnehmenden Beobachtungen zur steigenden Attraktivität rechtsextremer Positionen zusammen, verknüpft mit gelegentlicher Selbstkritik. Dazu zählten 

  • Dysfunktionalität des Staates: Der Staat werde zugleich als übergriffig und leistungsschwach empfunden. Überregulierung und die Unklarheit darüber, was der Staat von den Bürgern wolle, trügen zur Frustration und zur Radikalisierung bei. Zugleich werde der Alltag komplexer, durch staatliche Leistungsschwäche etwa im Bereich Infrastruktur aber auch schwerer. 
  • Verunsicherung und Ängste: Wirtschaftliche, aber auch kulturelle Abstiegsängste und Misstrauen gegenüber der Demokratie werden in Verbindung mit ökonomischen Unsicherheiten und multiplen Krisen (wie der Corona-Pandemie, Kriege, Klimawandel und steigende Migration) gesehen. Die Sehnsucht nach Vereinfachung und dem Ruf nach autoritären Lösungen wachse. 
  • Wirtschaftliche Lage und sozioökonomische Grundlagen: Dementsprechend wurde die ökonomische Situation als ein Treiber für die Zunahme rechtsextremer Positionen diskutiert. Teilnehmende argumentierten, der Wohlfahrtsstaat müsse Sicherheit schaffen um dem dem Einfluss rechtsextremer Positionen entgegenzuwirken. Ein Beschleuniger rechtsextremer Positionen sei dagegen ein „Standortnationalismus“, der am Arbeitsplatz nationalistische Einstellungen normalisiere. 
  • Medien und Aufmerksamkeitsökonomie: Die Dynamiken der Aufmerksamkeitsökonomie in traditionellen und sozialen Medien werden als problematisch für die Demokratie identifiziert. Kritisiert wurde die Diskussionskultur, insbesondere in Medien und Parlamenten. Persönliche Angriffe im Bundestag und reißerische Berichterstattung in Medien trügen zur Verrohung des Diskurses, zu Emotionalisierung, Gruppendenken und Schwarz-Weiß-Denken bei.  
  • Identität und Gruppendenken: Rechtsextreme Ideologien profitierten, so wurde argumentiert, von den in Medien und Alltagskultur geprägten Gruppenidentitäten, die sich in einem „Wir gegen die“ manifestiert, insbesondere weil sie auf Abwertung der anderen Gruppen setze. Verschwörungstheorien werden als treibende Kraft hinter rechtsextremen Einstellungen gesehen. Aufklärung und Integration nach allen Seiten hin tue not, auch um dem steigenden Antisemitismus entgegenzuwirken. 
  • Fehlende Streitkultur: Die politische Kultur sollte konstruktiven Streit zulassen und Modelle für den Ausstieg aus extremen Ideologien bieten. Die Offenheit der Demokratie müsse auch und gerade jenen gegenüber aufrechterhalten werden, die sie in Frage stellten. Grundlage könnte einerseits eine stärkere und entschiedenere Orientierung an den Menschenrechten sein, andererseits eine stärkere Bürgerbeteiligung über die repräsentative Parteiendemokratie hinaus. 

Die Frage nach dem Selbstverständnis wurde dann nach Auflösung des Plenums mit Pizza in der Hand in Stehgruppen diskutiert. Die Ergebnisse wurden auf Karten gesammelt und visualisiert. Zum Konsens der Demokratinnen und Demokraten gehörte demnach mehrere Kerne: 

  • Die Werte, Normen und Prinzipien des Grundgesetzes ordnen die Demokratie: Ähnlich wie in der gemeinsamen Erklärung des Bündnisses wurden u.a. der Artikel 1 zur Würde des Menschen sowie die Grundrechten wesentlich entsprechenden Menschenrechte genannt. Erneuert wurde auch das Bekenntnis zu Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, nämlich dass eine Demokratie die Kontrolle von Macht gewährleiste, dass sie ein Rechtsstaat ist, Regierende im Auftrag der Regierten auf Zeit legitimiert seien und dass Mehrheitsbeschlüsse respektiert würden.
  • Demokratie als Lebensform setzt zentrale Werten freiheitlichen und solidarischen Zusammenlebens um: Demokratie wurde als eine Praxis zur Umsetzung von Werten beschrieben, die zur Grundlage der Demokratie als Lebensform gehören. Besonders betont wurden die Werte der Gerechtigkeit und der Freiheit, in jeweils unterschiedlichen Ausformungen.
  • Demokratie braucht sozio-ökonomische Grundlagen: Dem Wert der Gerechtigkeit entsprechend, müsse Demokratie materiell unterlegt sein und Chancen auf ein gutes Leben für jeden ermöglichen – auch um Zeit und Fähigkeiten zu haben, sich politisch zu beteiligen.
  • Friedliche Vielfalt erfordert demokratische Tugenden: Dem Wert der Freiheit entsprechend, gebe es in einer Demokratie eine große Vielfalt von Weltsichten. Der friedliche Umgang mit der Vielfalt erfordere Toleranz, respektvollen Umgang und Offenheit gegenüber Andersdenkenden.
  • Demokratische Selbstregierung braucht Streitkultur: Meinungsfreiheit brauche öffentliche demokratische Streitkultur, also Streitfähigkeit, Dialogfähigkeit und die Möglichkeit inklusiver politischer Teilnahme. Der Streit müsse nach Regeln im Sinne eines respektvollen und faktenorientierten Gesprächs geführt werden und Andersdenkende integrieren. 

Die Diskussion dauerte bis 13.30 Uhr, eine halbe Stunde länger als geplant. Das dürfte auch der konstruktiven Gesprächsatmosphäre geschuldet sein. Die für Demokratien typische gegenseitige Kritik wurde nach vorherrschendem Eindruck so klar wie wertschätzend geübt. Die Teilnehmenden verband, wesentlich ausweislich der Einladung, die Hoffnung, dass im Austausch der verschiedenen Perspektiven und Meinungen ein besseres Verständnis für gemeinsame Probleme, aber auch füreinander entstand. Das könnte das Bündnis in Zukunft handlungsfähiger machen. Der Austausch soll damit nach allgemeiner Erwartung in der Abschlussrunde auch nicht beendet, sondern begonnen worden sein. Am Weltethos-Institut wird zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai 2024 jedenfalls eine nächste große Veranstaltung unter Beteiligung des Bündnisses geplant: Eine offene Messe der Positionen zu bisherigen Erfolgen, gegenwärtiger Bedeutung und künftigen Erwartungen an das Grundgesetz. 

Über den Autor:

Dr. Christopher Gohl

Dr. Christopher Gohl

Dr. Gohl forscht und lehrt seit 2012 am Weltethos-Institut an der Uni Tübingen zur Entstehung und Wirkung von Werten, zur Ethik in Unternehmen und Wirtschaft und zur lernenden Demokratie. 2021 war er für die FDP Abgeordneter im Deutschen Bundestag.