An-Institut der Stiftung Weltethos
an der Universität Tübingen

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Wissenschaft als Teil der Zivilgesellschaft – ein Tagungsbericht

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Politik auf Wissenschaft angewiesen ist. Sie verspricht sich davon sachliche, angemessene und wirksame Entscheidungen. Aber während in der Wissenschaft Erkenntnisse nur vorläufig gelten, beruft sich Politik gerne vorschnell auf einen „Konsens der Wissenschaft“. Wo wissenschaftliche Erkenntnisse gar politische Entscheidungen ersetzen sollen, ist Demokratie durch Expertenherrschaft und Wissenschaft durch politischen Missbrauch bedroht. Wie geht das besser? Welche öffentliche Rolle kann und soll die Wissenschaft spielen? Was kann „wissenschaftsfähige Demokratie“ und „demokratiefähige Wissenschaft“ heißen? Diese Fragen waren Thema der Tagung „Wissenschaft als Teil der Zivilgesellschaft“ am 4. und 5. August in Hannover. Die Veranstalter waren das Forschungsinstitut für Philosophie (fiph), das Weltethos-Institut und das Instituts für Sozialstrategie (ifs).

Gastgeber Prof. Dr. Jürgen Manemann (fiph) begrüßte die Anwesenden. Er würdigte gemeinsame Interessen und die Zusammenarbeit der drei Institute. Ziel der Tagung sei es, im Hinblick auf öffentliche Rolle und Auftrag der Wissenschaft eigene Positionen zu erarbeiten. Es gehe darum, einen Kompass für die Erarbeitung sozialer Lösungen zu gestalten.  Anschließend skizzierte Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel, der sowohl Direktor am Weltethos-Institut als auch am Institut für Sozialstrategie ist, den Begriff der Zivilgesellschaft. Es gäbe gute Gründe, die Wissenschaft als Teil der Zivilgesellschaft zu verstehen. Sie müsse aber ihr Verhältnis zu Werten klären und fähig sein zum offenen öffentlichen Dialog.

Die Vorträge im Anschluss widmeten sich neben den theoretischen Einordnungen ebenso den brennenden Themen unserer Zeit wie der Corona-Krise, dem Klimawandel, dem Verständnis von Umwelt und Natur, der Technikentwicklung mit den dazugehörigen Folgen, dem Ukraine-Krieg sowie den vielfältigen inneren wie äußeren Gefahren für den Bestand der westlichen Demokratien.

So beschrieb Dr. Christopher Gohl das Spannungsfeld in den Antipoden akademischer Freiheit und öffentlicher Verantwortung. Dazu vertrat er drei Thesen:

  1. Wissenschaft und Zivilgesellschaft seien Orte von verwandten Praktiken, unser Zusammenleben zu zivilisieren.
  2. Wissenschaftliche Methoden und demokratische Verfahren seien beide (in je unterschiedlicher Weise) bewusst organisierte, zivile, von gesellschaftlichen Verhältnissen geprägte, reflexive und selbstkorrektive Problemverarbeitungen.
  3. In den organisierten Lernprozessen von Wissenschaft und Demokratie entstünden unterschiedliche Formen von Wissen, die für Problemverarbeitungen miteinander verkoppelt werden sollten.

Seinen Ausblick fasst er in der Aufforderung, Lernfähigkeit zwischen Wissenschaft und Politik einzuüben. Das Wechselspiel müsse deutlich besser und das Rollenverständnis geschärft werden.

In der Öffentlichkeit stelle besonders die Kommunikation der Vorläufigkeit von Wissen eine Herausforderung dar, erläuterte Prof. Dr. Manemann in seinem Referat. Er betonte die Verantwortung der Wissenschaftler im Umgang mit einer informationsüberfluteten Gesellschaft. Eine pragmatische Perspektive auf das Leben der Menschen sei notwendig, um Vertrauen für eine respektvolle Kommunikation zu schaffen. Lebensformen seien erstarrt. In gewisser Weise müsse wahrscheinlich so etwas wie „Wissenschaft von unten“ erfunden werden, um breite Bevölkerungsschichten zu erreichen und in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Aus seiner Sicht sinke das Ansehen der Wissenschaft in der öffentlichen Wahrnehmung nach einem gewissen Reputationsanstieg im Verlaufe der Corona-Pandemie wieder.

Der Frage, welche Möglichkeiten die Zivilgesellschaft habe, sich an der Lösung der drängenden Probleme zu beteiligen, warf der Vortrag von Dr. Arianna Ferrari vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) auf. Der NABU sei in Deutschland der Verein mit dem meisten Mitgliedern, der sich mit Umweltschutz beschäftige. Die Referentin argumentierte, dass die Möglichkeiten zur Partizipation durch die Institutionalisierung der Verfahren zwischen Politik und Wissenschaft noch deutlich ausbaufähig seien. Ferrari stellte folgende Fragen: Wie wird garantiert, dass Beratung, Interessenverfolgung und Einflussnahme der einzelnen Akteure unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit erfolgen? Wie kann garantiert werden, dass zukünftige Auswirkungen von grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen mit den Interessen der Zivilgesellschaft kompatibel sind? 

Von einer anderen Seite näherte sich der Vortrag „Richtig streiten: Lektionen aus dem Positivismusstreit“ von Anne Specht vom Forschungsinstitut für Philosophie (FIPH) dem Zusammenhang von Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Sie rekonstruierte die Auseinandersetzung zwischen den beiden Philosophen Karl Popper und Theodor W. Adorno zu Aufgaben und Selbstverständnis der Wissenschaft. Daraus leitete sie Empfehlungen für eine gute und authentischen Streitkultur ab. Sie hob hervor, dass Streit zu einer lebendigen liberal-demokratischen Kultur unabdingbar dazugehören. Zu ihren Potenzialen gehöre es, die eigenen Begriffe, Positionen, Vorstellungen besser zu erkunden sowie ein lebendiger, öffentlicher demokratischer Diskurs. Streit könne produktiv gelingen, wo Streitende sich darum bemühten, ihr Publikum, ihr Gegenüber und deren Begriffe zu verstehen; einander „hermeneutisches Wohlwollen“ wollen zeigten, also Gemeinsamkeiten beachteten und Gegner*innen vor der Kritik stark machten; und wo sie Machtmissbrauch vermieden – also die Rahmenhandlung nicht verzerrten und Kampfbegriffe unterliessen.

Den Schlusspunkt des ersten Tages setzte Prof. Dr. Jan Wörner. Der langjährige Direktor der European Space Agency und ehemalige Präsident der TU Darmstadt plädierte für mutige Wissenschaft, die gesellschaftliche Herausforderungen aus je ihrer Disziplin heraus verstehen und Lösungen erarbeiten will. Aus der Sicht von Wörner führten alle ethisch-moralischen Vorgaben im Endeffekt zu persönlichen Entscheidungen. An welche ethischen Regeln sich die Akteure hielten, entscheide jeder letztlich für sich selbst. Wesentliche Parameter für den Umgang mit der Gesellschaft aus Sicht der Wissenschaft sah er in folgenden Verhaltensweisen: in der Toleranz, in der Akzeptanz und im Bemühen, Andere in Handlungen, Entwicklungen und Denken mitzunehmen. Der englische Begriff „Ownership“ beschreibe dies Bemühen gut, so der Ingenieur.

Der 2. Tagungstag wurde mit einem Vortrag von Frau Prof. Dr. Ursula Zehnpfennig eröffnet. Sie widmete sich der grundsätzlichen Fragestellung, ob Wissenschaft überhaupt wertfrei sein könne. Die Referentin vertrat die Auffassung, dass Menschen nicht wertfrei sein könnten. Unser gesamtes Alltagswissen sei von Werturteilen durchdrungen. Auf dieser Grundlage träfen wir permanent Entscheidungen. Mit dem eigenen Wertegerüst verfügten wir über eine Art Kompass, welcher uns durch unser Leben führe. Diese grundsätzliche Überlegung wurde im Vortrag mit den Prämissen und Rahmenbedingungen für die Wissenschaft in Bezug gebracht. Besonders widmete sie sich dabei der Herausbildung eines wissenschaftliches Weltverhältnisses.

Im nächsten Teil der Tagung wurden prägnante Impulsvorträge zum Thema „Engaged Services“ gehalten. So berichtete Prof. Dr. Manemann von seinem Forschungsgegenstand der Umweltphilosophie als einem Teilbereich der Praktischen Philosophie. Ziel in diesem Bereich sei es, eine Forschungsmündigkeit auch unter Bürger*innen auszubilden. Die Umweltphilosophie ziele auf die natürliche Umwelt ab, nicht auf die vom Menschen geschaffene. Es gehe um eine dem Leben dienende Umweltphilosophie. Manemann führte den Philosophen Jürgen Gollstein mit seinem Gedanken des „nature righting“ an. Ziel müsse sein, Resonanz in einem noch empfindsamen Subjekt zu erzeugen, um anzuerkennen, dass die Natur über eigene Rechte verfüge. 

In seinem Impulsvortrag widmete sich Dr. Christopher Gohl der Aufklärung dreier Begriffe: „Engaged Sciences“, „Public Intellectuals“ und „Public Engagement“. Er schlug vor, Engaged Sciences zu verstehen als „Wissenschaften, die (a) sich bekenntnishaft an ein Anliegen binden, (b) dafür bewusst in Wirkungsbeziehungen agieren“. Das werfe Fragen auf, funktional zu den Aufgaben der Wissenschaft in der Gesellschaft, epistemologisch nach dem methodisch interaktiven Dienst an validiertem Wissen und aktivistisch nach der Rolle der Wissenschaft als Agenda-Setterin, Advokatin oder Promotorin eines Anliegens. Zu den Public Intellectuals erinnerte er an die Abgrenzung des katholischen Theologen Hans Küng von seinem Freund, dem liberalen Soziologen Ralf Dahrendorf: Jener habe nach dem Vorbild Erasmus von Rotterdams für die Rolle des „engagierten Beobachters“ geworben. Küng selbst habe sich dagegen als öffentlicher Intellektueller im Sinne des chinesischen Philosophen Tu Wei-Ming verstanden, der „kulturelle Sensibilität, politische Wachsamkeit und soziales Engagement“ verknüpfen wolle als „‚Scholar‘, ein Wissenschaftler, der den Dingen auf den Grund geht, durch seine Worte aufrütteln möchte und insofern zu den ‚Movers‘ und ‚Shakers‘ gehört“. Zum „Public Engagement“ der Wissenschaften erläuterte Gohl das Selbstverständnis der F&E-Initiative Cyber Valley in Tübingen.

In seinem abschließenden Vortrag „Wissenschaftsfähige Demokratie und demokratiefähige Wissenschaft in der globalen Zivilgesellschaft“ führte Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel zahlreiche Motive der Tagung zusammen. Er beschrieb Wissenschaft als Teil der globalen Zivilgesellschaft, die wiederum eine Zielperspektive des guten Zusammenlebens aller Menschen sei. Um gutes Zusammenleben weltweit zu ermöglichen, sollten wissenschaftliche, demokratische und wirtschaftliche Lern- und Suchprozesse besser organisiert und genutzt werden. Wissenschaft sei „eine institutionalisierte Form der Erfassung der Welt“. Erstrebenswert sei eine „wissenschaftsfähige Demokratie und demokratiefähige Wissenschaft“, welche gemeinsam im Dialog nach zukünftigen Lösungen für die Umwelt und suche und dies offen, durchlässig und partizipativ gestalte. Die kollektiven Lern- und Suchprozess der Demokratie könnten von den Wissenschaften den Wert und das Vorbild des Recht auf Widerspruch und Nicht-Konformität bei gleichzeitiger Pflicht zur Achtung anderer Meinungen, zur Prüfung von Argumenten und zu öffentlicher Kommunikation lernen. Dahinter lägen ethische Mindeststandards einer globalen Zivilgesellschaft, die Wissenschaft und Demokratie einen könnten, darunter die 17 Sustainable Development Goals und die „Weltethos-Dialogkultur“.

Alle Vorträge wurden jeweils kritisch diskutiert. Einig waren sich alle Teilnehmenden, dass die Diskussion über das Verhältnis von wissenschaftsfähiger Demokratie und demokratiefähiger Wissenschaft fortgeführt werden solle,

Mit Textauszüges aus dem lesenswerten und ausführlichen Tagungsprotokoll von Oliver Bülchmann (redaktionell bearbeitet)
Foto: privat