Veränderungen und Fokussierungen: ein Lernprozess
Seit dem Beginn unserer Arbeit an der Studie „Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung“ 2017 hat sich einiges verändert. Der Untersuchungsgegenstand, die Weltlage – aber auch unsere Vorgehensweise. Wir haben gelernt, im Kontext von Regionen, nicht – wie zu Beginn – fokussiert auf einzelne Länder zu denken und zu arbeiten. Wir erkennen zunehmend, dass Konfliktszenarien häufig anderen Dramaturgien als den bisher vertrauten folgen. Und wir mussten erkennen, dass dem Faktor der Systemabhängigkeit auch von Autoren als „Augenzeugen“ stärker Rechnung getragen werden muss.
Dieser Lernprozess war notwendig, um uns den vor uns liegenden Aufgaben noch kritischer zu stellen. Wir wollen nicht den Fehler anderer Studien wiederholen, ein theoretisches Set von Kategorien allzu mechanistisch auf heteromorphste Wirklichkeiten zu stülpen. Vielmehr möchten wir verstärkt auf die Analysefähigkeit literarischer Texte als Indikatoren seismisch bis zu diesem Zeitpunkt noch kaum zu spürender mentaler Veränderungen in labilen Räumen setzen.
Stand der Studie
Die Studie „Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung“ analysiert gegenwärtig schwerpunktmäßig die Regionen Nigeria, Maghreb/Algerien und Kosovo. Eine Ausweitung des Untersuchungsraumes in Richtung Georgien/Armenien ist in Vorbereitung. Das Analyseraster wird dabei ständig erweitert und modifiziert, mit dem Ziel, jeweils „Emotion Maps“ zu erstellen. Hinter diesem Begriff steckt die Idee, die Ausprägungen jener Parameter sichtbar zu machen, die konfliktgetöntes Verhalten von Gruppen – bewusst oder unbewusst – steuern. Im Fokus stehen das Herausarbeiten gesellschaftsrelevanter Themen, die Frage nach sich verändernden Erzählstrukturen, neuen Identitätskonstruktionen, Referenzgeschichten, die Analyse der Rezeptionsräume, der emotionalen Befindlichkeiten etc.
Beispiel Algerien
So zeigt die Textlandschaft Algeriens einen seit 2015 schwelenden Paradigmenwechsel auf: Während die Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg teilweise zu verblassen beginnt, treten Themen wie arabischer Nationalismus, Islamismus ins Zentrum und es werden Gefühle der Benachteiligung, der Hoffnungslosigkeit und einer grotesken Verklammerung mit den mumifizierten alten Systemen und ihren Akteuren z.T. in satirischer Überzeichnung zum Ausdruck gebracht. Gleichermaßen vehement tritt aber auch eine vitale, heiter-entschlossene Form des Widerstands, eine Aufbruchstimmung auf den Plan. Die neuere und neuste algerische Literatur beschreibt passioniert und reflektiert die jüngsten Bestrebungen, eine algerische Form der Demokratie zu installieren – die „Hirak Rif“-Bewegung beginnt, zum Teil einer neuen hoch aktuellen politischen und gesellschaftlichen Utopie/Mythologie zu werden.
Zu Gefährdungsmomenten, die auch den algerischen AutorenInnen nicht immer klar zu sein scheinen, zählt indes die Tatsache, dass landesinterne Differenzen ignoriert werden. Der südalgerische Raum mit seinen anderen Ethnien und Traditionen wird aus Sicht der Literatur der Metropole allenfalls marginal erfasst. Gerade dort bauen sich jedoch insbesondere in Grenzregionen hochproblematische Radikalisierungstendenzen auf. Texte aus der Kabylei-Region erzählen von beginnendem Fundamentalismus/Islamismus, staatlicher Repression und Sprachkämpfen, Diskriminierung, Desillusionierung und dem Gefühl einer starken Nord-Süd-Hierarchie. Hier könnte ein künftig bedrohliches Vakuum entstehen. Dies ist ein Beispiel für die Ziele des Cassandra-Projekts. Wir haben nicht den Anspruch, „Explosionen“ vorauszusagen. Wohl aber können wir das Aufeinandertreffen gefährlicher „Substanzen“ und „Ingredienzien“ beschreiben, die ein „zündfähiges Gemisch“ ergeben.
Feldforschung „Autoren-Tagung“ in Paris
Genauso wichtig und aufschlussreich wie die möglichen Zukunftsszenarien, die derzeit in Algerien im Umlauf sind, sind für Europa die „weichen“ kulturellen Faktoren dieses wichtigen Landes des Mittelmeerraums. Mythen, Fiktionen, Narrative, die Sprache – alle diese und viele andere Themen wurden diskutiert, als das Projekt am 15. Mai 2019 eine Autoren-Tagung im Goethe-Institut in Paris veranstaltete. Diese Tagung mit algerischen und französischen SchriftstellerInnen und JournalistInnen erwies sich als fundamentaler Baustein der gegenwärtigen und weiteren Studienarbeit. Nach dem Netzwerkaufbau, der Text- und Kontextrecherche und einer ersten Textauswahl dient die „Feldanalyse“ in Form einer Tagung zur Überprüfung der Analysen und Hypothesen. Ziel der „Feldanalyse“ ist es, über den direkten Austausch mit AutorInnen Einblick in die literarische Infrastruktur des Landes zu bekommen. Wobei sich die Perspektive einer kompetenten, mit Algerien überaus vertrauten Außenperspektive wie der Alice Schwarzers als wertvolle Bereicherung erwies.
Dialograum Literaturfestival
Vom 10. bis zum 13. Mai 2019 nahm das Studienteam darüber hinaus am Internationalen Literaturfestival POLIP in Pristina/Kosovo teil, um dort mit kosovarischen und serbischen AutorInnen über die Rolle der Literatur in diesem von vielfältigen Spannungen überlagerten „Dialograum“ zu sprechen.
Dieses Festival versteht sich nicht nur als Literaturfestival, sondern auch als Freiraum, der – inmitten einer nach wie vor hoch angespannten Situation – Begegnungen zwischen literarischen Akteuren aus Serbien und dem Kosovo ermöglichen soll. Literatur wird auf dem Festival als transformative Kontaktzone über Sprach- und Ländergrenzen hinweg verstanden. 2019 stand das Festival unter dem Motto „Literary Deal“ als Chiffre für eine pragmatische Weiterarbeit ohne große politische Visionen und Utopien. Das Studienteam wird die weitere Entwicklung dieser literarischen „Gegen-Öffentlichkeit“ in den nächsten Monaten weiter verfolgen.
Das Cassandra-Phänomen
Im Rahmen dieser kurzen Präsentation ist es nur möglich, einen punktuellen Einblick auf eines der Arbeitsfelder des Projekts zu geben. Das Cassandra-Phänomen indes greift um sich: Nicht nur, dass die Welt derzeit im Bann der wohl jüngsten Kassandra der neueren Zeit, Greta Thunberg, steht, auch das Projekt selbst greift aus. Vom 30. November bis 1.Dezember findet in Kooperation von Münchner Sicherheitkonferenz und BMVg auf Schloss Elmau ein erster Cassandra Club statt, am 15. November wird die Pariser „Hirak“-Gruppe auf Initiative des Friedensbuchpreisträgers Boualem Sansal die Gespräche in der Madrider „Casa Arab“ fortsetzen.
Text: Jürgen Wertheimer
Foto: Bettina Flitner